Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
eines Akademiemitglieds, in Russland seit jeher höher geachtet als in Deutschland, beeindruckt auch den Offizier. «Aber Genosse Akademiemitglied», sagt er, «Sie brauchen sich überhaupt keine Sorge um Ihre künftige Arbeit zu machen. Als Landwirtschaftsspezialist haben Sie in Kasachstan ein viel ergiebigeres Arbeitsfeld als in Moskau.» Der Dicke nickt zufrieden.
Ein einsamer Mann an einer Waggontür kommt mir bekannt vor. Tatsächlich, es ist Jule Gebhardt, der Lebensgefährte von Hilde. Wir umarmen uns. «Wer hätte damals in Berlin gedacht», sagt Jule, «dass wir uns so begegnen? … Ach, diese Halunken da oben!» Ich mache ihn mit Veronika bekannt, die er aber kaum wahrnimmt. Er ist zu sehr mit der unmittelbaren Zukunft beschäftigt. «So beschissen das alles ist», sagt er, «komme ich vielleicht dorthin, wo Hilde ist. Da könnte ich ihr helfen.» Armer Jule, denke ich. Ich bin überzeugt, dass Hilde nicht mehr am Leben ist. 8
Abends steht der Zug noch immer auf den Rangiergleisen. Als es dunkel wird, fordern uns die Posten auf, einzusteigen. Licht gibt es im Waggon nicht. Es riecht widerwärtig. Die Leute scheuen sich, laut zu sprechen. Nachdenklich oder vor sich hin dösend, liegen sie auf den Pritschen. Hier und da glimmt eine Zigarette. Nachts ist wieder Luftangriff. Heute scheint es besonders heiß herzugehen. Unter dem Getöse der Flakkanonade ruckt der Zug plötzlich an. Holpernd und polternd steigert er seine Geschwindigkeit, als renne er vor den Sirenen und Leuchtgeschossen davon. Nicht allzu weit detoniert eine Bombe. Eine Frau hat Durchfall. Zusammen mit drei anderen Männern – je zwei an einer Seite – halten wir sie an den Händen, während sie ihr Hinterteil aus der Tür baumeln lässt … So rasen wir aus der roten Hauptstadt hinaus.
Die meisten Leute im Waggon sind, wenn man von ihren Familiennamen absieht, ganz gewöhnliche Russen, die kein Deutsch sprechen, ihre Vornamen sind fast ausnahmslos russisch. Sie kommen aus allen Bevölkerungsschichten: Arbeiter, Angestellte, Intellektuelle. Auch ein Student ist darunter. Er kommt aus Leningrad, ist bei einer Studienreise nach Moskau aufgegriffen und gleich mit den «Moskau-Deutschen» weiterverfrachtet worden. Sein Gepäck besteht nur aus einer Aktentasche – Proviant und Geld scheint er nicht zu besitzen. Aber er macht gute Miene zum bösen Spiel, wird er doch einstweilen von den anderen durchgefüttert. Noch kann man sich Barmherzigkeit leisten.
Ich horche auf, als ich aus einer Ecke deutsches Geflüster höre. Wie sich herausstellt, sind eine Frau aus Neukölln und ihre dreizehnjährige Tochter in unserem Waggon, Restbestand einer Familie, die als Politemigranten in die Sowjetunion gekommen sind. Die Frau heißt Margarethe König, die Tochter Isolde. 1938 wurde Margarethes Mann verhaftet. Kurz danach holte das NKWD auch den achtzehnjährigen Sohn ab.
Später erfahre ich, dass es noch zwei weitere «echte» Deutsche in unserem Zug gibt: Die einundneunzigjährige Mutter des Akademiemitglieds Brinkwirt-Altaiski, eine Hannoveranerin, die seit 60 Jahren in Russland lebt, und Ludwig Elfinger, ein Münchener Jungkommunist, der 1932 als Facharbeiter in die Sowjetunion gekommen ist. Was ich erst später erfahre: Auch Wolfgang Leonhard befindet sich in diesem Zug. Über seine vergleichsweise glimpflich verlaufene Evakuierung lese ich erst Jahre später in seinem Buch «Die Revolution entlässt ihre Kinder».
Ein paar Leute in unserem Waggon verhalten sich den echten Deutschen – auch mir – gegenüber betont unfreundlich. Mehr oder weniger deutlich bringen sie zum Ausdruck, dass sie, vorbildliche Russen, Opfer der Tatsache geworden sind, dass es dieses deutsche Geschmeiß gibt. Andere stellen zwar keine Deutschfeindlichkeit zur Schau, erklären jedoch, dass es sich bei ihrer Aussiedlung um ein Missverständnis handle. Der eine hat in einem Volkskommissariat gearbeitet, der andere in einer Zeitungsredaktion und der dritte in einem Handelskontor – sie alle sind felsenfest davon überzeugt, dass sie sehr bald zurückbeordert werden. Ein selbstbewusster junger Mann in einer hochmodernen grünen Lederjacke, der sich als Artur Karlowitsch Geinz vorstellt, erzählt von seiner Arbeit als Kameramann bei Mosfilm* . Er tritt resolut auf, hat Verbandszeug zur Hand, als sich eine Frau den Finger einquetscht, repariert hier leutselig ein Kofferschloss und dort eine Brille. Mir erzählt er schon am zweiten Abend, dass er mit einer
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