Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Hunderte Gestalten nach oben auf die nun leeren Gleise: Der Schotter ist wenigstens trocken. Dann müssen wir waggonweise antreten. «Waggon 14 hierher!», wird befohlen. Wir folgen einem Soldaten, ein Pferdewagen fährt vor – wir dürfen unser Gepäck aufladen. Dann setzen wir uns in Bewegung. Die Leute gehen zu zweit oder zu dritt durch die Dunkelheit, gerade der Vordermann ist noch zu sehen. Veronika und ich trotten unmittelbar hinter dem Fuhrwerk her. Der Weg scheint endlos. Die Nacht auch. Dann lässt der Regen nach, hört nach einer Weile ganz auf, der Weg scheint nicht mehr so matschig zu sein. Dafür wird es kalt. Langsam, aber hartnäckig kriecht die Kälte uns unter die Haut. Die Dämmerung enthüllt mehr und mehr von der Landschaft: Steppe, graues Gras, der Weg – eine schnurgerade Linie. In der Ferne wird eine Bergkette sichtbar. Davor, so weit der Blick reicht, kein Strauch, kein Baum, nichts.
Dann, zuerst kaum wahrnehmbar, erscheint die Silhouette einiger Hütten. Sogar eine Windmühle glaubt man zu sehen. Wir laufen und laufen – das Dorf kommt nicht näher. Unsere Kolonne zieht sich bereits ein oder zwei Kilometer dahin. Manche können kaum noch, aber nur die Einundneunzigjährige, die schon kurz nach dem Abmarsch zusammengeklappt ist, wird auf die Fuhre mit dem Gepäck gesetzt. Gut 40 Kilometer liegen hinter uns, als wir am Mittag die Siedlung erreichen. Graue Lehmhütten mit winzigen Fenstern, hinter denen die Bewohner die Ankömmlinge betrachten. Die Hütten liegen weit auseinander, dahinter Plumpsklos ohne Türen. Die Erklärung erweist sich als simpel: Holz ist hier so rar, dass man sich Klotüren nicht leistet.
Vor dem «Klub», der nicht höher ist als die übrigen Gebäude, hält der Kutscher an. Wir bringen die Koffer in den großen Versammlungsraum. Landesübliche Ausgestaltung: ein großes Stalin-Bild, Losungen auf rotem Tuch an den Wänden, ein Rednerpult. Aus dem Rahmen fällt nur ein abseitsstehendes Klavier. Ob in dieser Einöde jemand spielt?
Jeder Familie wird eine Bank zugewiesen. Kofferschlösser öffnen sich, Sachen werden zum Trocknen aufgehängt. Der Geruch von Feuchtigkeit breitet sich aus. Was niemand erwartet hat: Im Vorraum wird Suppe ausgeschenkt, gute, kräftige Suppe mit vielen Kartoffeln und Fleisch.
Mit vollem Magen sieht die Welt nicht mehr ganz so garstig aus. Schlaf übermannt die erschöpften Leute. Die Frauen legen sich auf die Bänke, die Männer strecken sich auf dem Fußboden aus. Nur Benitas Mutter schläft auf der Erde, denn ihre Bank ist von Artur und Benita besetzt.
Dann wird es still im Versammlungsraum, hier und da schnarcht jemand. Stunden vergehen, ehe sich jemand regt. Langsam wird es dunkel. Eine Petroleumlampe wird angezündet, erste Gespräche kommen in Gang. Einige Männer sind aufgestanden und für eine Zigarettenlänge auf die Straße getreten. Auch ich gehe hinaus auf die «Straße» – wenn man den Matsch und die Pfützen zwischen den Häusern so nennen will. Was sollen wir hier, frage ich mich. Zum Arbeiten hätte man uns doch woanders hingebracht …
Abends gibt es noch einmal Suppe, und zur Nacht werden die Leute richtig lebendig. Kiebitze sammeln sich um eine Gruppe von Kartenspielern. Jemand flickt seine Schuhe. Weiter hinten werden neue Bekanntschaften geknüpft. Ein flotter Endvierziger, einst Leiter eines Parfümeriegeschäfts in der Moskauer Stoleschnikow-Gasse, gibt schlüpfrige Anekdoten über ehemalige Stammkunden zum Besten. Ich unterhalte mich mit einem jungen Mann namens Keßler, der von seinen Erlebnissen im Sowjetisch-Finnischen Krieg erzählt – später erfahre ich, dass er nur aufgeschnappte Geschichten kolportiert. Ein Mädchen setzt sich ans Klavier und spielt Chopin, sie hat, so stellt sich heraus, am Moskauer Konservatorium studiert. «Die Kultur», höre ich ihren Vater sagen, «muss man in jeder Lebenssituation pflegen.»
SIEDLUNG NR. 11
Der Ort, in den man uns gebracht hat, liegt nicht, wie angekündigt, im weiter südlichen Gebiet Ksyl-Orda, sondern in Karaganda, im Verwaltungsbezirk Ossokarowka. Er heißt Siedlung Nummer 11.
Im Umkreis von einigen hundert Kilometern gibt es an die 20 solcher Siedlungen. In jeder wohnen bis zu 1500 Menschen. Richtige, das heißt historisch gewachsene Dörfer, gibt es nicht, bis auf eine Ausnahme. Dieses Ausnahmedorf wurde 150 Kilometer von hier noch in der Zarenzeit von deutschstämmigen Bauern auf dem Gebiet der mittleren Wolga gegründet. Ich bin nie dort gewesen,
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