Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
dessen Mammutsätze womöglich verständlich zu finden.
Aber Marxens Lehre schimmerte durch alle Diskussionen und gelesenen Texte hindurch, ganz gleich, ob sie sich gegen die Prügelstrafe an deutschen Schulen richteten, über den Kampf der Rifkabylen gegen die französischen Kolonialherren informierten oder das Wesen des Mehrprodukts erläuterten. Mich faszinierte, dass der Marxismus die unterschiedlichsten Erscheinungen in Beziehung zueinander setzte, sämtliche gesellschaftlichen Konflikte aus einem einzigen Urwiderspruch ableitete, sodass die Großartigkeit der Marx’schen Ideen letztlich in ihrer frappierenden Einfachheit bestand.
Alles, was sich ringsum abspielte, schien zu bestätigen, dass der Kapitalismus – wie Marx und Engels vor 80 Jahren vorausgesagt hatten – dabei war, an seinen Krisen zugrunde zu gehen. Scheinbar zutreffend hatten die beiden Klassiker schon damals die nun vor unseren Augen ablaufenden Todeszuckungen der Ausbeutergesellschaft, das immer tiefer greifende Chaos und das Erstarken der «proletarischen Totengräber» beschrieben. Der Untergang des Kapitalismus dauerte zwar länger, als Marx und Engels es vorausgesagt hatten, aber das große Aufbegehren hatte begonnen – vorerst in der Sowjetunion – und würde bald Deutschland, Europa und die übrigen Kontinente ergreifen. Vater vertraute mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, dass der Sitz der Komintern, nach dem Sieg der deutschen Revolution, nach Berlin verlegt werde. Wie sollte man da nicht der Euphorie verfallen?
Indes, während wir noch über die Losung der «Volksrevolution» stritten, zogen sich dunkle Wolken über Deutschland zusammen. Am 14. September 1930 kam es zu einem erdrutschartigen Erfolg für die NSDAP*, die von wüsten Reaktionären hochgepäppelt wurde. Als im nächsten Jahr die ersten braunen Uniformen in den Straßen Neuköllns auftauchten, waren wir, weil es den historischen Gesetzen widersprach, eher verblüfft als empört. Mit der Zeit mussten wir uns allerdings daran gewöhnen, dass hier eine Nazi-Kneipe eröffnet und dort eine SA-Kaserne* aufgemacht wurde.
Mit dem Faschismus, der das Gerede vom Sozialfaschismus allmählich ablöste, erging es mir wie mit anderen Erscheinungen, die in meinem Leben Spuren hinterlassen haben. Wenngleich ich mir das Ausmaß der Verbrechen, auf die Deutschland zusteuerte, nicht auszumalen vermochte, weigerte ich mich auf der anderen Seite beharrlich, an einen Erfolg der Hitlerfaschisten zu glauben. Ich war davon überzeugt, dass die mit nationalistischen Parolen irregeleiteten Werktätigen für unsere Befreiungsideen gewonnen werden mussten. Doch war es schwierig, an Nazi-Anhänger heranzukommen, noch schwieriger, sie in Grundsatzdiskussionen zu verwickeln. Dabei wussten wir im Kommunistischen Jugendverband nicht einmal, ob man mit den «Verführten» reden oder die «Störrischen» (entsprechend der ZK-Losung «Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft») verprügeln sollte. So liefen unsere Entlarvungen der Hitler’schen Versprechungen im Sozialistischen Schülerbund und im Jugendverband im Grunde darauf hinaus, bereits Überzeugte zu überzeugen. Das stärkte zwar unser Selbstbewusstsein, doch konnte der Erfolg der Faschisten damit nicht aufgehalten werden. Öfter ging es uns so wie am ersten Tage des Berliner Verkehrsarbeiterstreiks im November 1932: Als wir auf dem Schulweg feststellten, dass weit und breit keine Straßenbahn fuhr, frohlockten wir wegen des Sieges der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition über die «Bonzen», dann aber ernüchterte uns am U-Bahnhof Grenzallee ein handgeschriebenes Plakat: «Hier streikt die NSBO» – die Nationalsozialistische Betriebsorganisation.
Auch die immer häufiger angekurbelten Flugblatt- und Klebezettelaktionen, bei denen wir vor den hektisch aufeinanderfolgenden Wahlen des Jahres 1932 nachts halbmeterhohe Buchstaben an die Wände pinselten und, um keinen Verdacht zu erwecken, darauf achteten, keine Farbe auf die Schuhe zu verkleckern, verpufften in der überhitzten Atmosphäre der allen alles versprechenden Propaganda.
Dass die Leute, unverständlicherweise auch die Arbeiter, nicht so leicht zu überzeugen waren, merkten wir bei jenen Einsätzen, die stolz «Betriebsagitation» genannt wurden. Sie fanden ein paarmal vor dem einzigen in unserer Nähe gelegenen Werk statt, der EFHA-Fleischwarenfabrik. Die Arbeit dort begann um sechs Uhr früh, sodass wir, wenn wir rechtzeitig dort sein wollten, um fünf aufstehen
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