Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Massenverhaftungen durch die Luft. Dann verdichteten sich die Schreckensnachrichten, sodass wir nach und nach erfuhren, wer von den Parteiführern festgenommen, wo Parteilokale von SA-Leuten überfallen, welche Druckereien verwüstet worden waren. Weitere Schläge folgten: Die Aberkennung der kommunistischen Abgeordnetenmandate nach der Reichstagswahl vom 5. März, die Absegnung der neuen Macht durch den Handschlag Hindenburgs und Hitlers am Sarge Friedrichs des Großen, der erste Judenboykott, die Proklamierung des Arbeiterfeiertages am 1. Mai zum «Tag der nationalen Arbeit», die Zerschlagung der Gewerkschaften, die Bücherverbrennungen, die Verbote sämtlicher Parteien und fast aller Verbände.
Da mein Bruder und ich in Britz und an der Schule als Kommunisten bekannt waren, hatte Vater unseren Umzug nach Tempelhof und meinen Wechsel ins Köllnische Gymnasium im Zentrum Berlins beschlossen. Das traf mich hart, brachen doch viele Kontakte ab, und langjährige Schulfreundschaften trockneten ein. In der neuen Schule fiel es mir verdammt schwer, den – wie mir Vater geraten hatte – politisch uninteressierten Gymnasiasten zu mimen und die abstoßende Wirklichkeit zu beobachten: den nationalen Ton der plötzlich gewendeten Lehrer, die überheblich dreinblickenden Hitlerjungs, die durch die Arbeiterviertel marschierenden und «Juda verrecke!» brüllenden SA-Schläger.
Am 1. April, dem Tag des Judenboykotts, starrten meine Freundin Luta und ich entgeistert auf die SA-Posten vor jüdischen Geschäften und auf die Plakate «Deutsche, kauft nicht bei Juden!». Kurz darauf begann Lutas Familie die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Lutas Vater, ein englischer Staatsbürger, schickte Frau und Tochter für die zum Abschluss seiner Geschäfte nötigen Monate in die Tschechoslowakei. Luta und ich schworen uns gegenseitig die Treue, kurz darauf begleitete ich sie zum Anhalter Bahnhof.
Auch mein Vater, der nach dem faschistischen «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» entlassen worden war, begann von einer künftigen Beschäftigung außerhalb Nazideutschlands zu sprechen und verkündete schließlich, dass er mit seiner derzeitigen Freundin Gerda, einer meinen Bruder und mich völlig ablehnenden jungen Frau, nach Moskau gehen werde. Außerdem regte er an, Mutters Beziehungen in der Komintern zur Besorgung der sowjetischen Visa für uns Jungs zu nutzen.
Anfangs schien mir eine Flucht vor dem Faschismus, den man doch im Lande selbst bekämpfen musste, wie eine Desertation, dann nahm mich die Gloriole der Sowjetunion aber mehr und mehr gefangen. Jetzt eröffne sich die Möglichkeit, sagte ich mir, den Staat der Werktätigen nicht nur wahrzunehmen, sondern tatkräftig am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuhelfen. So sah ich mich schon, wie ich nach einem Universitätsabschluss als Geologe in Sibirien gewaltige Entdeckungen machen, wie ich mich als Offizier der Roten Armee in dem von Deutschland entfesselten Krieg bewähren oder den Auftrag erhalten würde, zu meiner Freundin nach Tel Aviv überzusiedeln, weil ja dort genauso für den Kommunismus geworben werden musste.
Wahrscheinlich wäre meine Entscheidung für Sowjetrussland auch ohne meinen Bruder gefallen, doch bestärkte er mich in meinen Plänen. Seine Freundin Böszi, die Tochter eines Funktionärs der Ungarischen Räterepublik von 1919, war nämlich schon in die neue Welt gefahren, sodass er sich längst für die Ausreise nach Moskau entschieden hatte.
Aus Furcht vor unbedachten Äußerungen oder unüberlegten Versprechern verschwiegen wir die Abreise selbst vor unseren Freunden. Wir verschlangen russische Bücher, um noch so viel wie möglich über die Sowjetunion zu erfahren, kauften von dem wenigen Geld, das wir hatten, allerlei Krimskrams und warteten auf die von der Komintern beantragten sowjetischen Visa. Dass sich deren Ausfertigung über Monate hinzog, empfand ich als unangenehm, aber einleuchtend, weil alle in die rote Hauptstadt Strebenden selbstverständlich gründlich überprüft werden mussten. Das betraf indes, wie wir glaubten, nicht Walter und mich, waren wir doch Angehörige der über jeden Zweifel erhabenen Mitarbeiter der Komintern – der kommunistischen Weltorganisation.
Die Mühlen der Sowjetbürokratie mahlten langsam. Erst im August wurden wir in die Sowjetbotschaft Unter den Linden bestellt, um unsere Reisepapiere abzuholen. Ehe wir hineingingen, schlichen wir misstrauisch um das Gebäude herum, dann drückten
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