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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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wir uns rasch durch das große Tor und erfuhren, dass die Visa schon im Portierfensterchen der Einfahrt ausgegeben wurden. Es waren sogenannte Einlegevisa, also Einreisegenehmigungen auf einem Extrablatt, welches man bei der Ausreise aus Deutschland tunlichst verbarg und erst an der sowjetischen Grenze in den Pass hineinlegte. Da wir befürchteten, beim Verlassen der Botschaft festgenommen und durchsucht zu werden, knifften wir das wertvolle Dokument auf die Größe des Passbildes zurecht und klebten es in eine Verbandsattrappe an eine heikle Stelle unserer Körper. Um die Sache glaubwürdig erscheinen zu lassen, hatten wir der betreffenden Stelle schon vorher mit Hilfe einer Rasierklinge etwas Blut entlockt: Welch eine Symbolik!

EMIGRANTENALLTAG
    Wenige Tage nach unserer Ankunft in Moskau suchten Walter und ich die Zentrale der Internationalen Roten Hilfe (MOPR*) auf, wo wir endlos lange Fragebögen ausfüllten, aufgrund derer wir dann als politische Emigranten anerkannt wurden. Von der MOPR erhielten wir jeweils 50 Rubel als Überbrückungsgeld, das ich teils in russische Zigaretten ( papirossy ) und teils in «französische» Brötchen umsetzte (größere Schrippen zu 32 Kopeken das Stück), die ich immer trocken und meist gleich nach dem Einkauf auf der Straße verzehrte.
    Unsere drei wichtigsten Fragen, die zu klären sich die MOPR für uns bemühte, waren: Verpflegung, Unterbringung und Arbeit. Da Walter sehr bald (allerdings nur für kurze Zeit) als Übersetzer im Apparat der Roten Gewerkschaftsinternationale* unterkam und dort im Palast der Arbeit essen konnte, war nur ich auf die Kantine in den Kellerräumen eines Rote-Hilfe-Heims in der uliza Woronzowa angewiesen, wo es täglich eine kostenlose Mittagsmahlzeit gab.
    Das Schönste an der Emigranten-Speisung war der tägliche Hin- und Rückweg, bei dem ich immer mehr vom Moskauer Stadtzentrum kennenlernte. Oft wählte ich den Weg über den Roten Platz, der auch nach meinem heutigen Verständnis ein großartiges Ensemble darstellt. Von dort aus schlenderte ich manchmal durch die winkligen Gassen der damals noch nicht abgerissenen Kitaj-Stadt (auch «Weiße Stadt» genannt), manchmal aber auch am Ufer der Moskwa entlang, oder ich folgte der Twerskaja bis zum Strastnoi-Kloster und ging dann über den nach der Straßenbahnlinie benannten A-Ring bis zu den Teichen Tschistye prudy.
    Zu meinen ersten Eindrücken gehörte, dass die Straßen immer belebt und die Straßenbahnen stets überfüllt waren. Noch auf den Puffern drängelten sich die Leute. Auch an den Bushaltestellen wimmelte es von Menschen, die, sobald ein altersschwacher Leyland-Bus auftauchte, kreischend nach vorn drängten. Im Gegensatz zur Straßenbahn, wo eisern der Grundsatz hinten einsteigen, vorne aussteigen galt, hatte der Bus nur eine einzige Tür, und oft war es unmöglich, sich rechtzeitig einen Weg nach draußen zu bahnen. Die Sensation war ein Verkehrsmittel, das selbst in Berlin unbekannt war – der O-Bus, dessen große und natürlich auch übervollen Wagen mit flatternden roten Fähnchen die Twerskaja auf und ab sausten. Beim Anblick dieser nicht einmal im Kapitalismus vorhandenen Verkehrsmittel lachte mir das Herz, wollte ich doch überall Merkmale der Überlegenheit des Sozialismus ausmachen. Auf der Twerskaja gelang das halbwegs. Wenn es auch wenige Neubauten gab, so fesselten mich die in den Schaufenstern ausgestellten Projekte der geplanten Großbauten des Kommunismus. Es gab riesige Plakate oder Tableaus mit Zahlen zur Planerfüllung, die ich begeistert anschaute. Überhaupt konnte man auf den Straßen des Moskauer Zentrums einiges entdecken: Rotarmisten marschierten an großen Porträts von Bestarbeitern vorbei, Lesehungrige drängten sich vor den ausgehängten Zeitungen, Menschen mit Büchern unterm Arm besuchten Kirchen, die zu Bibliotheken umfunktioniert worden waren. Seltsam: Wenn ein Platzregen die Bürgersteige überflutete, zogen die Frauen und Mädchen ihre Schuhe aus und liefen unbekümmert barfuß weiter. Es gab keine Straßenfeger, dafür aber untätige dworniki , die, halb Portier, halb Hausmeister, mit einer Blechplakette am Revers herumstanden und irgendetwas bewachten – den Hof, die Abfallhaufen, vielleicht auch die Mieter. Autos, meist klapprige Fords oder Anderthalbtonner aus dem kürzlich eingeweihten Moskauer Autowerk AMO-SIL*, hatten Seltenheitswert. Fahr- und Motorräder schienen unbekannt zu sein. Weil es zumeist keine Gardinen gab, wirkten die Fenster der

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