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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Manchmal tauchen die Kontrolleure auch während der relativ häufigen Impfkampagnen auf, um die sich die Wolgadeutschen drücken, weil sie glauben, man flöße ihnen Gift ein. Die Aufpasser stellen sich dann neben den Ausschank und überwachen, dass die balanda nur an Geimpfte ausgegeben wird.
    Die weitaus gründlichsten Besichtigungen werden von Hygienekontrolleuren durchgeführt. Es ist grotesk, dass das alltägliche Sterben der Menschen die Kontrolleure völlig kaltlässt, sie aber einen Skandal inszenieren, wenn sie einen nicht ganz kahl geschorenen Mann entdecken: die Läuse. Während man gegen Wanzen, die angeblich keinen Typhus übertragen, nichts unternimmt, wird gegen Läuse ein gnadenloser Kampf geführt. Nicht nur nach der Entlausung in der Sauna, sondern auch oft beim Zählappell oder an der Kantinentür heißt es plötzlich: Oberkörper frei, Läusekontrolle!
    Allmählich jedoch beginnt die hohe Zahl der «Abgänge» – besonders unter den «Arbeitsarmisten», die zu dieser Zeit die Mehrheit im Lager bilden – die Lagerleitung zu beunruhigen, da die Planerfüllung dadurch gefährdet ist. Die Obrigkeit verordnet deshalb die Einrichtung eines OPP, osdorowitelny profilaktitscheski punkt (Prophylaktischer Gesundungspunkt). Diese Nachricht löst Hoffnungen in uns aus, zumal wir erfahren, dass gerade unser Lagpunkt, die Malaja Kossolmanka, zum OPP umfunktioniert werden soll. Über die Einweisung in den OPP entscheidet jedoch eine Ärztekommission. Ich gehöre zu den Auserwählten. Die vermeintlich nicht Erholungsbedürftigen werden in andere Lagpunkte abtransportiert.
    Wir anderen werden in eine mit einfachen (nicht doppelstöckigen) Pritschen ausgerüstete Baracke umgesiedelt, erhalten jeder eine Decke und einen kleinen Sack, den wir mit trockenem Gras vollstopfen und als Kopfkissen benutzen können. Es gibt dreimal am Tag, nicht nur morgens und abends, Wassersuppe, die etwas dicker als gewöhnlich ist, aber nur 500 Gramm Brot täglich.
    Im OPP zieht sich die Zeit endlos hin. Die meisten Leute dösen den ganzen Tag auf der Pritsche vor sich hin. Die einzige Unterbrechung des Tagesablaufs sind die Mahlzeiten und die Rundgänge der Ärztin, die Tag und Nacht auf den Beinen ist. Sie redet den apathisch Daliegenden gut zu und verabreicht gelegentlich mal eine Tablette. Zu den Pflichten der Ärztin gehört, zu bestimmen, wer das einzige Glas Milch bekommt, das dem Lagpunkt zugeteilt wird (oder das von der Zuteilung ankommt). Da natürlich immer die am meisten Geschwächten diese Morgengabe erhalten, geschieht es häufig, dass diese am nächsten Tag nicht mehr am Leben sind. Ich erinnere mich an zwei Leute mit russischem Familiennamen: Ljaguschkin und Saizew. Ljaguschkin ist ein schlaksiger Bursche aus Baku, der, selbst als er kaum noch atmen kann, mit angeberischen Sprüchen um sich wirft. Saizew hingegen ist ein kleiner blasser Intellektueller mit geflickter Nickelbrille, mit dem ich mich einige Male über die Perspektiven des Krieges nach Stalingrad unterhalten habe. Er spricht stockend und meint, der Krieg werde noch Jahre dauern, er werde sein Ende nicht erleben. Damit soll er recht behalten – einen Tag nachdem er das Glas Milch getrunken hat, haucht er sein Leben aus.
    Am Morgen nach Saizews Tod teilt Antonina Michailowna mir das Glas Milch zu. Obwohl es wunderbar schmeckt, bin ich erschrocken. Bedeutet dies, dass ich als Nächster an der Reihe bin? Von diesem Tag an zähle ich allmorgendlich: «Erster Tag nach der Milch, zweiter Tag nach der Milch … fünfter Tag nach der Milch …» Offenbar bin ich dem Tod doch ein weiteres Mal von der Schippe gesprungen.
    Als ich mich besser fühle, gehe ich hin und wieder ein paar Schritte draußen auf und ab und sitze lange, in die kostbare Decke gehüllt, auf dem die Baracke umgebenden Erdwall. Jetzt, da der Schnee dahinschmilzt, kann ich mich am Glitzern der Eiszapfen erfreuen. In den Formen der Eiszapfen entdecke ich Märchenfiguren und erzähle mir phantastische Geschichten über zwei bunte Fische, die irgendwo in der Südsee Zwiesprache miteinander halten.
    Auf die Sonnenseite der Baracke kann ich mich allerdings nicht setzen. Da würde ich auf die Wachbude sehen, durch die, wie ich weiß, in der Nacht die Toten herausgetragen werden. Für alle Toten gibt es nur einen einzigen Sarg aus ungehobelten Brettern, der, nachdem die Leiche außerhalb der Zone in die Grube gekippt wurde, wieder zurückgebracht wird. Wenn der Sarg am Wachsoldaten vorbeigetragen wird,

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