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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Ein Pferdeknecht meint, wir müssten uns rechts halten, der zweite schwört, dass da ein großer Sumpf beginne und wir nach links abschwenken sollten.
    Die eingebrochenen Gäule stampfen in Todesangst, sinken immer tiefer im Moor ein und machen mit dünnem Wiehern auf sich aufmerksam. Sie spüren augenscheinlich, dass ihre letzte Stunde geschlagen hat. Zwei beherzte Männer haben es zwar zuwege gebracht, den armen Viechern einen Strick um den Bauch zu binden, doch den durchgefrorenen und völlig durchnässten Menschen mangelt es an Kraft, um sie herauszuzerren. Die Pferde versacken weiter und weiter. Schließlich wird die Rettungsaktion auf morgen verschoben. Doch da gucken nur noch – hinter den Grasbüscheln kaum wahrnehmbar – die Köpfe der beiden Unglückstiere aus dem Morast. Laute geben sie keine mehr von sich.
    Im anhaltenden Regen wird Feuer gemacht – das wenigstens haben die Leute in der Taiga gelernt. Sobald die Flammen aufzüngeln, drängen sich alle um die Brandstätte und strecken die klammen Hände in die Wärme. Die Pferdeknechte rufen: «He, Saubande, Holz sammeln! Aufstehen! Trockene Äste herbringen!» Doch niemand erhebt sich. Wütend über die Missachtung ihrer Autorität, gehen sie um die Feuerstelle herum und treten den Hockenden in den Hintern. Die fallen vornüber, verbrennen sich die Hände, stehen aber nicht auf. Auch ich denke nicht daran, mich zu erheben. Sollen doch die Satten das Feuer unterhalten.
    Gegen Morgen hört der Regen auf, die Kälte dringt trotzdem unter die Haut. Der Hunger wird quälend. Um die im Morast steckenden Pferde kümmert sich niemand mehr. Jetzt geht es um die Menschen. Die beiden Führer sind auf Erkundungstour, kommen jedoch mehrmals unverrichteter Dinge zurück. Ich merke kaum, wie der Tag vergeht. Es wird wieder dunkel – die zweite Nacht in der Taiga. Im Hocken, die Wärme des Feuers spürend, verbringe ich 24 Stunden wie im Halbschlaf. Mehrmals schrecke ich auf und dämmere wieder ein. Als es hell geworden ist, weckt mich ein allgemeines Aufbruchsgetöse. Es stellt sich heraus, dass wir uns nur wenige hundert Meter entfernt vom Trakt Korelino-Shdanka befinden. Bis zur Shdanka sind es nur zwei Kilometer.
    Die beiden erbärmlichsten Figuren (darunter ich) dürfen nun, da zwei Pferde ertrunken sind, zu Fuß gehen. Erleichtert stapfe ich hinter dem Tross her. Auf der Shdanka bekommen wir Suppe und Brot, sogar 600 Gramm, doch die gestrige Ration ist verfallen. Dann werden wir durch die Sauna geschleust, erhalten aus der Entlausungskammer unsere trockenen Sachen zurück und schlafen auf dem Fußboden des Ankleideraums. Am nächsten Tag (wieder 600 Gramm Brot!) schickt man uns die 20 Kilometer nach der Malaja Kossolmanka zurück. Da bin ich, weil mir das Laufen nichts ausmacht, nicht mehr der Letzte. Auf der Wache des OPP sind die Soldaten empört, weil die Leute in großen Abständen und einzeln eintrudeln: Die hätten ja abhauen können! Doch abgehauen ist keiner.
    Kurz darauf geht meine Zeit auf der Malaja Kossolmanka zu Ende. Die Leute, die sie hinter sich haben, gelten als voll einsatzfähig und werden auf unterschiedliche Lagpunkte verteilt. Für mich beginnt eine Zeit mit vielen Veränderungen, Höhen und Tiefen.
    Wenige Tage nachdem wir auf der Shdanka waren, schickt man mich und ein Dutzend wackliger Figuren – nun bewacht! – wieder nach der Shdanka zurück. In unserer kleinen Marschkolonne sind der Pianist, der sich nostalgisch seiner shmuriks erinnert, und ein Mennonit namens Isaak. Er ist ein schlitzäugiger Bursche, äußerlich robust, mit einem breiten Gesicht. Richtig aufmerksam auf ihn werde ich erst, als wir in dieselbe Baracke kommen und er jeden Morgen, lange vor dem Wecken, im Schlaf Choräle singt. Es klingt erhebend. Wenn seine Nachbarn, die der Gesang stört, ihn wach rütteln, weiß er angeblich nichts von seinen Gesängen. Auch kann er sich nicht erinnern, etwas geträumt zu haben.
    Anfangs werde ich auf der Shdanka dem expeditor zugeteilt, also dem Begleiter der Versorgungstransporte, einem Mann aus Baku, der Ehlert heißt. Wir bringen – zumeist nachts – ein paar Waggonladungen mit dem Traktor von Korelino nach der Shdanka. Der Traktorist ist ein Sträfling auf Freigang. Unterwegs machen wir im Wald halt und kochen. Da stopfe ich dicken Mehlbrei, von dem ich vor ein paar Tagen nicht einmal zu träumen wagte, in mich hinein. Am unwirklichsten ist, dass Ehlert, wenn ich die Schüssel ausgelöffelt habe, nüchtern fragt:

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