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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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lässt er den Deckel öffnen und schlägt mit einem Hammer auf den Kopf des Toten. Angeblich gibt es eine Verordnung, die dies vorschreibt, um die Flucht eines sich tot stellenden Sträflings zu verhindern.
    Nach zehn oder zwölf Tagen OPP ereignet sich auf unserem Lagpunkt und im ganzen Lager etwas Besonderes. Aufgrund des schlechten Versorgungszustandes ist die Lagerleitung auf die Idee gekommen, einen Mann nach Kasachstan zu den Familien der «Arbeitsmobilisierten» zu schicken, um Pakete einzusammeln und in einem Sonderwaggon nach Soswa zu bringen. Da dieser Mann nicht nur politisch einwandfrei sein muss, sondern auch das Vertrauen der Wolgadeutschen genießen und über Organisationstalent verfügen muss, hat man Götz ausgewählt. Mütter und Ehefrauen schnüren eifrig Pakete, die unter den Adressaten verteilt werden, nachdem Götz mit seinem Waggon wieder im Lager eintrifft.
    Ich frage Götz, ob er meine Frau gesehen habe. Er macht ein harmloses Gesicht und verneint (erst viel später erfahre ich, dass dies nicht der Wahrheit entspricht). Er habe lediglich gehört, behauptet Götz, dass sie nach Temir-Tau übergesiedelt sei, eine neue Stadt 15 oder 20 Kilometer von Karaganda entfernt, wo ein riesiges Hüttenkombinat errichtet wird. Sie soll dort einen Posten in der Buchhaltung bekommen haben. Wenigstens ist sie gesund und arbeitet in ihrem Beruf. Aber mich wurmt, dass sie mir nicht einmal eine Nachricht übermittelt hat. Doch Götz entschuldigt sie – wahrscheinlich habe sie mir einen Brief geschrieben, doch sei es ihm in der Hektik der Abreise nicht mehr möglich gewesen, Temir-Tau zu besuchen.
    Von nun an ist der Lagpunkt in zwei Parteien geteilt: Auf der einen Seite die Paketempfänger (fast ausschließlich Ex-Kulaken), auf der anderen Seite die leer Ausgegangenen. Erstere kochen und brutzeln ununterbrochen, tauschen Lebensmittel aus und richten, da sich an den Öfen Schlangen bilden, sogar Feuerstellen im Freien ein. Wir anderen schleichen verstört um sie herum. Hin und wieder fragt ein Habenichts einen Satten, ob er ihm nicht wenigstens die mittägliche Wassersuppe überlassen könne, doch da gibt es zumeist abschlägige Antworten.
    Einmal gelingt es auch mir, mich satt zu essen. Das ist eine lange Geschichte, die damit beginnt, dass einige Lagerpferde plötzlich «rotzverdächtig» sind und wegen der großen Ansteckungsgefahr nicht mit anderen Tieren in Berührung kommen dürfen. Auf der Malaja Kossolmanka stellt eine Veterinärkommission bei zwei Pferden Symptome der Erkrankung fest. Die Gäule werden in die Taiga hinausgeführt, dort erschossen und, nachdem man sie vergeblich zu verbrennen sucht, im Sumpf vergraben. Da Götz, nun wieder Lagpunkt-Chef, befürchtet, dass sich ein Paketloser unter einem Vorwand Ausgang verschaffen und über einen Kadaver hermachen könnte, lässt er die Stelle von zwei Pferdeknechten Tag und Nacht bewachen. Doch da hat Götz sich verschätzt. Nach zwei Tagen buddeln die Pferdeknechte den verkohlten Pferdeleichnam aus, schneiden ein paar mehr oder weniger passable Fleischstücke heraus und bieten es unter der Hand den Hungrigen an. Ich besitze noch einen in meiner Pelzmütze eingenähten 20-Rubel-Schein und kann einen der Knechte dazu überreden, mir eine Portion Pferdefleisch für das faktisch wertlose Geld zu verkaufen.
    Meinen Vorsatz, das Fleisch recht lange zu kochen, kann ich jedoch nicht ausführen. Der Handel mit den Aasstücken ist ruchbar geworden, und Götz, der burunduk und Antonina Michailowna rennen wie besessen durch die Zone und kontrollieren den Inhalt eines jeden auf dem Feuer stehenden Kochtopfes. Was soll ich tun? Ich kann das Fleisch ja nicht einfach wegwerfen! Also beschließe ich, es so zu verzehren, wie es ist. Ich bleibe einen Tag von morgens bis abends auf meiner Pritsche liegen und beiße, den Kopf unter der Decke verbergend, ein Stück nach dem anderen ab. Ich muss zwar lange kauen, doch das Zeug schmeckt sogar. Nach dieser Mahlzeit fühle ich mich – kaum zu glauben – besser als nach dem Glas Milch.

REITEN UND ANDERE ERLEBNISSE
    Am Ende der dreiwöchigen OPP-Zeit weist man uns doch noch eine Arbeit zu, eigentlich keine richtige Arbeit, sondern eine Aufgabe, die von den meisten als angenehme Abwechslung empfunden wird: Die Pferde von der Malaja Kossolmanka sollen auf den Landwirtschaftspunkt Shdanka überführt werden (wir vermuten, dass die Malaja Kossolmanka dauerhaft zum OPP werden soll, was sich aber als falsch erweist). Der ist nur

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