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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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zurückkriegt, mindestens zur Hälfte entladen werden. Da bleibt es nicht aus, dass die Holzfäller, die die Loren schieben müssen, die Gleisbauer verfluchen.
    Am 1. Februar 1943 werde ich völlig unerwartet zum Brigadier der Gleisbauer bestimmt. Während jedoch ein Brigadier normalerweise seine Brotnorm unabhängig von der Leistung der Brigade erhält, muss ich meine Norm erfüllen. Der techruk behauptet, dass die Freistellung des Brigadiers nur gilt, wenn seine Brigade 16 Leute umfasst – mir aber unterstehen 14 Mann.
    Gespenstisch sieht mein Gleisbauer-Trupp aus, wenn wir morgens durchs Tor ziehen. Einige Leute sind in zerlöcherte Decken gewickelt, die sie mit Bändern und Stricken am Körper befestigt haben, andere tragen turbanähnliche Kopfbedeckungen aus Stofffetzen oder alten Schals. Manche sind regelrecht vermummt – mit irgendwelchen Lappen versuchen sie, Mund, Wangen und Ohren vor der Kälte zu schützen. Fünf oder sechs Männer – darunter auch ich – haben zerschlissene Wattejacken bekommen, die wahrscheinlich kürzlich Verstorbenen gehörten. Außerdem sind mir und einigen anderen neue bachilly (wattierte Stiefelstrümpfe) und mehr oder weniger solide Fausthandschuhe zugeteilt worden. Über der Jacke trage ich eine Art Regencape, das ich mir, da mein Mantel buchstäblich in Stücke zerfallen ist, von einem erkrankten Kumpel geliehen habe. Da der Mann vor einigen Tagen gestorben ist, gehört der Umhang jetzt mir. Aus der «früheren Welt» ist mir nur meine schon stark lädierte schwarze Pelzmütze verblieben.
    Einige meiner Leute sind mir noch gut in Erinnerung. Ein junger Bursche heißt Viktor Stern. Bis zum Kriegsbeginn hat er auf einem U-Boot gedient. Noch in Ossokarowka hat er damit angegeben, dass er, wenn er morgens nackt durch das Boot zur Waschstelle ging, sein Handtuch am steifen Penis aufgehängt habe. Jetzt schaut er teilnahmslos, mit dem apathisch-verglasten Blick des Hungernden um sich. Am Ende des Monats ist er tot.
    Ein anderer, ein Pianist aus Baku, hatte noch während der Herfahrt schmunzelnd davon erzählt, dass sich die Musiker, wenn sie auf Begräbnissen spielen, um die Trauergäste nicht zu schockieren, einer Geheimsprache bedienen, in der der Verblichene shmurik (etwa Blinzelnder) und der Leichenschmaus flashok (Fähnchen) geheißen habe. Jetzt sagt er bisweilen, sich um ein Lächeln bemühend, nun werde er bald selbst ein shmurik sein und ohne flashok auskommen müssen. Doch er irrt sich – er überlebt.
    Dann ist da der Moskauer Geiger Kaulin. Er arbeitet langsam, aber stetig, flucht nicht und beklagt sich nie. Vor dem Tod hat ihn das nicht gerettet.
    Auch an zwei Brüder Paisker entsinne ich mich (der ältere hieß Johannes), nicht zuletzt deshalb, weil sie auf der Doppelpritsche unter mir schlafen und sich ständig (was unter wolgadeutschen Verwandten sonst nicht üblich ist) mit heiseren Stimmen ankläffen. Oft reden sie unverständliches Zeug, doch begreife ich, dass es um machorka geht, die Johannes noch besitzt und gelegentlich gegen Brot eintauscht. Wie Spekulanten sehen die beiden allerdings nicht aus, man könnte glauben, dass sie jeden Moment entkräftet umfallen. Und tatsächlich: Eines Morgens regt sich der Ältere nicht mehr – er ist tot. Als der Jüngere den mit einem Hängeschloss versehenen Sperrholzkoffer des Bruders öffnet, entdeckt er, dass der voller schimmliger Brotstücke ist. Trotz meiner Warnung verschlingt der Jüngere fast den ganzen Inhalt des Koffers, bekommt kurz darauf Magenkrämpfe, wird in den Medpunkt gebracht, den er nicht mehr lebend verlässt.
    Meine Brigade schlägt schmale Schneisen in den Wald, räumt das Unterholz und die vom Wind umgeworfenen Bäume weg, füllt Löcher mit festgestampftem Schnee aus, schleppt die von den Holzfällern abgesägten Tannen zur Trasse, legt die hölzernen Schienen auf die eingekerbten Bohlen und fügt sie, da es keine Nägel gibt, mittels grob gehauener Verschlüsse aneinander. Obwohl ich in meinen Abrechnungen nicht an Koeffizienten für verschiedene Schwierigkeitsgrade, Steigerungen, Entfernungen beim Heranbugsieren der Stämme usw. spare, erfüllen wir die Norm nicht immer. So zynisch es klingt, oft helfen uns die «Abgänge» bei der Normerfüllung, denn ich kann die Rationen der jeweils Verstorbenen auf die Übriggebliebenen anrechnen. Im Schnitt fällt jeden zweiten Tag jemand aus – tot oder halb tot. Am 28. Februar sind von der ganzen Brigade noch drei Mann einsatzfähig, die übrigen

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