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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Familiennamen zu ändern. Daraus schließe ich, dass sie wieder heiraten möchte. Und Lottchen, geht es mir durch den Kopf, wird einen anderen Papa mitsamt einem anderen Namen bekommen, wird eine echte Russin werden und bald nichts mehr über ihren Vater und ihre Herkunft wissen.
    Von Veronika habe ich schon fast ein Jahr kein Lebenszeichen erhalten. Nun kann ich auch nicht mehr auf Vera hoffen. Die Außenwelt hat mich abgeschrieben.
    Oder nicht? Ein paar Monate später erhalte ich einen Brief. Absender ist die Gesellschaft vom Roten Kreuz und Roten Halbmond. Der Brief enthält ein Formular mit über 30 Fragen, die kafkaesker nicht sein können: ob ich mich «wohl» fühle, ob ich mit meiner Arbeit zufrieden bin, Klagen über die ärztliche Versorgung habe, wie viel Fleisch und Gemüse ich pro Woche verzehre, ob ich allein ein Zimmer bewohne oder den Wohnraum mit anderen Personen teilen muss, ob ich regelmäßig Zeitung lese, einen Klub besuche usw. Und doch schöpfe ich ein Fünkchen Hoffnung aus der Tatsache, dass da jemand in Moskau sitzt, der meinen Aufenthaltsort kennt, auch wenn er nichts gegen das NKWD ausrichten kann. Ich fülle den Fragebogen aus und schicke ihn zurück. Vom Roten Kreuz höre ich erst nach 13 Jahren wieder – im April 1956, bei meiner Ausreise aus der UdSSR.

WINTER 1943
    Chef des Lagpunktes Malaja Kossolmanka ist, so unglaublich es klingt, ein Wolgadeutscher: Götz (russisch: Gez), der allerdings viele Jahre in Moskau gelebt hat.
    Mit ihm hat es folgende Bewandtnis: Götz hat an der Militärakademie der Luftwaffe in Moskau studiert. Er verließ diese Hochschule als Jagdflieger im Range eines Leutnants. Er wird an die Bürgerkriegsfront nach Spanien geschickt, schießt dort mehrere faschistische Flugzeuge ab. Da es für jeden Abschuss einen Orden gibt, kommt er hochdekoriert in die sowjetische Hauptstadt zurück. Beim deutschen Überfall auf die UdSSR ist Götz bereits Oberleutnant und wird sofort an die Front geschickt. Er bewährt sich auch dort, holt drei oder vier Flugzeuge vom Himmel und heftet sich die dazugehörigen Orden an seine Uniform. Dann wird er selbst abgeschossen, kann aber über sowjetischem Territorium mit dem Fallschirm abspringen. Wie in solchen Fällen üblich, wird er nach Moskau geschickt, um sich in einem der Flugzeugwerke eine neue Maschine abzuholen. Bei den Formalitäten während der Auslieferung des Aeroplans stößt ein Oberst auf die Rubrik «Nationalität» in seinem Militärpass und fragt: «Sie sind Deutscher?» Götz bejaht. «Dann», so der Oberst, «müssen wir Ihren Einsatz zurückstellen.» Befehl ist Befehl! Götz wird dem NKWD überstellt, wo man nicht viel Federlesens mit ihm macht. Trotz seiner wütenden Proteste nimmt man ihm die drei Sterne ab und beordert ihn in die «Arbeitsarmee»* des Lagers Nummer 239. Auf Staatskosten kauft man ihm sogar eine Fahrkarte, sodass er beinahe so komfortabel nach Sibirien reist wie einst der Genosse Lenin, der die Fahrt in die Verbannung bekanntlich im Schlafwagen antrat.
    Im Lager weiß man jedoch nicht, was man mit diesem «Arbeitsmobilisierten», auf dessen Lederjacke so viele Orden prangen, anfangen soll. Lagerchef Wassin, der nicht sicher ist, ob Götz nicht eines Tages wieder von Moskau angefordert wird, entscheidet, ihn auf einen entfernten und unproduktiven Lagpunkt abzuschieben, allerdings als Chef – man kann ihm ja wohl keine Säge in die Hand drücken. So landet Götz auf der Malaja Kossolmanka.
    Kurz bevor ich dort eintreffe, wird er nach Kasachstan geschickt. Der Lagpunkt wird kommissarisch vom techruk , dem Technischen Leiter, geführt, einem farblosen Menschen, dem das Leben und Überleben der ihm anvertrauten Leute ziemlich gleichgültig ist.
    Ich bin inzwischen vom Bastschuhflechten befreit und in die Brennholz-Brigade zurückversetzt. Zwar verdiene ich nun wieder 500 Gramm Brot, doch setzt mir die Kälte nach drei oder vier Wochen mörderischem Hunger ziemlich zu. Ich habe sogar vergessen, wer mein Partner in dieser Zeit war. Behalten habe ich nur, dass wir die Bäume, die wir umhauen und abästen, auch die paar hundert Meter bis zur Wachbude herankarren müssen. Da eiserne Gleise nicht vorhanden sind, werden die Loren auf hölzernen Schienen vorangestoßen. Das ist eine zermürbende Arbeit, der Boden ist uneben und die aus mittelgroßen Tannen gefertigten Holzgleise sind nicht sonderlich gerade. Die Loren entgleisen fortwährend und müssen, weil man sie sonst nicht auf die Gleise

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