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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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elf sind entweder eingegangen oder ringen in der Krankenstation um ihr Leben.
    Am 1. März breche auch ich zusammen und werde zum Medpunkt gebracht. Ob noch Gleise angelegt werden und wer dies tut, ist mir egal. Im Dämmerzustand nehme ich nur wahr, dass sich Antonina Michailowna um mich bemüht. Seltsam, nicht um meiner selbst willen möchte ich mich wieder hochrappeln, sondern eher, um sie nicht zu enttäuschen. Am dritten oder vierten Tag bin ich wieder halbwegs bei Bewusstsein, und nach neun oder zehn Tagen werde ich erneut «aktiviert» – diesmal als Barackenwart (der vorige ist gestorben).
    In dieser Funktion habe ich alle «Abgänge» zu melden und mich um das Wegtragen der Leichen zu kümmern (um selbst anzupacken, bin ich zu schwach). Die Menschen sterben wie Fliegen. Bei den meisten geschieht es fast lautlos. Sie kriechen von der Arbeit nach Hause, legen sich auf die Pritsche, strecken alle Glieder von sich und verenden. Andere bäumen sich auf, jammern in der letzten Lebensminute oder schimpfen erbärmlich. Ein Kraftfahrer (ein kleiner Mann, den wir «Käfer auf Rädern» nennen) kommt bei einem Arbeitsunfall um. Der alte Schulz nimmt sich das Leben.
    An sich kommen in dieser schlimmen Phase keine Selbstmorde vor – die häufen sich erst 1945, als die Leute begreifen, dass sie auch nach Kriegsende nicht in ihr altes Leben zurückkehren dürfen. Schulz ist eine Ausnahme. Er ist schon 55, hätte eigentlich gar nicht mobilisiert werden dürfen. Wegen seines Alters und seiner ruhigen Art wurde Schulz von allen gut gelitten und landete schließlich als Nachtwächter auf dem Lebensmittelspeicher. Als dort in gewissen Abständen kleine Mengen Mehl verschwinden, streut der für die Lagerung verantwortliche Buchhalter, ein abgefeimter Schurke, der selbst mit Mehl handelt, eine hauchdünne Mehlschicht auf den Boden des Lagerraums und identifiziert wenige Tage später die Fußspuren von Schulz, der – wie wir später erfahren – das Schloss mit einem simplen (hier allerdings Seltenheitswert besitzenden) Fünf-Kopeken-Stück aufgeschlossen hat. Schulz, ein strenggläubiger Mann, wird in den Karzer gesteckt und erhängt sich dort.
    Außer mich um die Toten zu kümmern, spalte ich Brennholz, heize Öfen, schrubbe Fußböden, schleppe Wasser, achte nachts darauf, dass die zum Trocknen aufgehängten Sachen nicht gestohlen werden. Da ich als Barackenwart immer in der Zone zu tun habe, kann ich mir bald ein Bild von den zahlreichen Kommissionen machen, die tagsüber im Lager auftauchen. Erstaunt registriere ich, welches Gewese um diese Kommissionen gemacht wird und mit welcher Servilität die lokalen Bosse den Abgesandten aus der Hauptstadt Soswa begegnen. Alle paar Tage werden die Barackenwarte ins Kontor getrieben und instruiert, wie sie sich bei Begehung der Schlafräume durch die Kontrolleure zu verhalten haben und was sie auf mögliche Fragen zur Belüftung und Hygiene, zum Trocknen der Fußlappen und zum Essen antworten sollen. Natürlich wird ihnen immer wieder gedroht, dass sie bei Nichtbefolgung der Anweisungen in den Wald geschickt werden.
    Es gibt Brandschutzkommissionen, die die Öfen und Abzüge inspizieren und Strafen verhängen, wenn das zum Trocknen aufgeschichtete Holz zu nah an den Feuerstätten liegt. Andere Kontrolleure überprüfen, ob die Fußböden blank gescheuert und die Pritschen aufgeräumt sind. Besonders gefürchtet sind Besichtigungen des Barackeneingangs, bei denen es darum geht, Spuren der Nachtpinkler auszumachen. Haben doch alle hier, was unter diesen Bedingungen nicht verwunderlich ist, eine schwache Blase und müssen nachts mehrmals hinaus, laufen aber in der Kälte nicht bis zum Plumpsklo, sondern erleichtern sich gleich vom Treppenabsatz aus in den Schnee. So ist der Barackenwart morgens damit beschäftigt, den vom Urin gefärbten Schnee wegzuschaufeln, und wehe ihm, wenn eine Spürnase noch ein paar gelbe Schneekörner entdeckt.
    Dann gibt es Abordnungen, die den Zustand der Klos begutachten, sich für die Zubereitung und Austeilung der Wassersuppe oder die Aufbewahrung des Brotes interessieren. Bei den Kücheninspektionen wird unter anderem auch kontrolliert, ob die Köche darauf achten, dass alle Lagerinsassen – wie vorgeschrieben – vor dem Erhalt der Suppe einen Schluck Kiefernadelextrakt zu sich nehmen, der gegen Skorbut helfen soll, aber, wie ich an mir selbst festgestellt habe, keine Wirkung zeigt: Obwohl ich ihn fleißig trinke, beginnen meine Zähne zu bröckeln.

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