Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
20 Kilometer von hier entfernt. Der Weg dorthin führt über Korelino, das aber an der Eisenbahn liegt und deshalb für die rotzverdächtigen Pferde gemäß der Quarantänebestimmungen tabu ist. Folglich bleibt nur die Möglichkeit, die etwa 25 Gäule durch die weglose Taiga zu führen. Zwei Pferdeknechte erklären, sie wüssten einen Weg durch die Sümpfe. Voraussetzung sei natürlich, dass jedem Pferd ein Reiter beigegeben werde, weil sonst die Gefahr bestünde, dass die Tiere auseinanderstreunen.
So werden 25 Leute zur Überführung der Tiere abkommandiert, darunter auch ich. Ich wehre mich und sage, dass ich noch nie auf einem Pferd, geschweige denn auf einem ungezäumten, gesessen habe, aber das wird nicht ernst genommen. «Sind doch zahme Viecher», wird mir entgegnet, «die sind froh, wenn sie nicht geschlagen werden. Mit ihnen kommt jedes Kind zurecht.»
Für Leute, die auf dem Land aufgewachsen sind, ist es sicher ein Kinderspiel, für mich nicht. Obwohl meine klapprige Mähre wirklich sanftmütig ist, schaffe ich es nicht einmal, auf sie raufzukommen. Ich muss mir, als sich der Reiterzug schon in Bewegung setzt, einen hohen Baumstumpf suchen, um überhaupt aufsitzen zu können. Zum Glück bewegen wir uns auf einem Weg, so kann ich einigermaßen mit den anderen Schritt halten. Dann aber biegt die Spitze des Zuges in den Wald ein. Ich bin schon der Letzte in der Kolonne. Verdammter Mist, denke ich, wenn ich den Anschluss verliere, mich möglicherweise verirre, bin ich geliefert. Obendrein ist das Pferdchen Staatseigentum, das auf keinen Fall veruntreut werden darf.
Im unwegsamen Gelände schaukelt meine Mähre bedrohlich. Mal bricht sie in ein Wasserloch ein, mal trottet sie unter tiefhängenden Ästen hindurch, die mich fast von ihrem Rücken gefegt hätten. Zudem sitze ich wie auf Feuer. An meinem Allerwertesten ist schon kaum ein Polster vorhanden, und das Rückgrat des halbverhungerten Viehs kann man gut und gerne mit einer Säge vergleichen. Ich verschaffe mir Linderung, indem ich meine Pelzmütze absetze und sie unter mich stopfe. So geht’s besser. Doch nicht lange. Als mein Gaul wieder mal eine unverhoffte Bewegung macht, rutscht das Pelzkissen unter mir weg. Im ersten Moment merke ich es gar nicht (ich muss mich ja festhalten), im zweiten, als es mir auffällt und ich mich umdrehe, sehe ich nur noch einen zehn oder zwölf Meter entfernten schwarzen Fleck im Gras. Ich getraue mich nicht, das Pferd zu wenden. Wie sollte ich die Mütze auch aufheben?
Verzweifelt treibe ich mein Pferdchen also an und schaffe es, etwas näher an den Vordermann heranzukommen. Einer der Pferdeknechte wartet am Rande des hin und wieder durch einen abgebrochenen Ast markierten Weges. Ich muss eine so jämmerliche Figur machen, dass sich sogar in seinem rauen Herzen Mitleid regt. «Ich geb dir ein bisschen machorka », sagt er, während er neben mir herreitet. Da ich die Hände nicht frei machen kann, dreht er mir ein Ziegenbeinchen, raucht es mir sogar an. Wieder dieses angenehme Benebeltsein nach langer Rauchpause! Für ein paar Augenblicke vergesse ich alles andere. Dann, als ich den Stummel schon fortgeworfen habe, entdecke ich entsetzt, dass der Ärmel meiner Wattejacke qualmt. Ein brennender Tabakkrümel ist hineingefallen und schwelt nun im Futter! Ich versuche, die rauchende Watte zu ersticken, indem ich die Hand auf die unsichtbar brennende Stelle drücke – vergebens. Es raucht und raucht. Dann ziehe ich, mit Mühe die Balance haltend, die Jacke aus und lasse den schmauchenden Ärmel in eine Pfütze hinabbaumeln. Aber auch das hilft nichts. Zwar wird das Ende des Ärmels pitschenass, aber irgendwo qualmt es weiter. Nun beginnt es zu regnen. Der Regen hilft gegen den Schwelbrand, aber ich kriege die Jacke nicht mehr an. Ohne Mütze, ohne Jacke, mit rasch durchnässten Schultern, zittere ich bald. Dem Pferdchen scheint’s nichts auszumachen. Es setzt, ab und zu unter mir wegsackend, ein Bein vor das andere. Den Vordermann sehe ich nicht mehr.
Doch dann sammelt sich die Reiterkolonne auf einer kleinen Lichtung. Die Leute sind zumeist abgestiegen und suchen unter Büschen und Bäumen Unterschlupf vor den hinabstürzenden Fluten. Mühsam lasse ich mich vom Pferderücken gleiten und recke meine erstarrten Glieder. Alsbald erfahre ich, dass es zwei Gründe für den unvorhergesehenen Halt gibt. Erstens sind zwei Pferde etwas weiter rechts im Morast stecken geblieben. Zweitens wissen unsere Führer nicht weiter.
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