Gelöscht (German Edition)
losschickt, damit er seine Runden laufen kann.
Als es endlich läutet, kommt Miss Fern zu mir, blickt mir über die Schulter und sieht, wie wenig ich gearbeitet habe. »Ist das der Dank?«, murmelt sie vor sich hin. Aber dann lächelt sie, und ich weiß, dass sie es nicht so meint.
»Der Dank wofür?«
Sie setzt sich auf Bens leeren Stuhl. »Ich habe mit Mr Gianelli, dem Kunstlehrer, gesprochen und ihm deine Eulen-Zeichnung gezeigt. Und ich habe auch nicht unerwähnt gelassen, dass du Künstlerin werden willst.« Sie zwinkert.
»Und?«
»Er legt sich ins Zeug, damit er dich in seinen Unterricht holen kann. Wir werden sehen, was passiert, aber ich gehe davon aus, dass er sich durchsetzt. Er ist viel zu nervig, als dass man ihm lange etwas abschlagen könnte.«
Ben sehe ich erst wieder bei der Versammlung.
Er sitzt mit den anderen Schülern seiner Betreuungsklasse ein paar Reihen weiter vorn. Seine Haare kleben an seinem Kopf – vom Regen oder vom Schweiß? – und sein Gesicht hat wieder eine gesündere Farbe angenommen. Als wir reinkommen, dreht er sich um und entdeckt mich.
Okay?,
forme ich mit den Lippen. Er nickt und lächelt schwach.
Jeder Jahrgang muss einmal pro Woche in der Aula zusammenkommen: Jahrgang 11 ist freitagnachmittags dran, also ist das heute meine erste Versammlung. Mein Platz ist am Rand unserer Reihe, und Phoebe ist weit genug weg von mir, dass ich sie ignorieren kann. Neben meiner Sitznachbarin Julie saß ich schon gestern in Englisch. Sie war zwar nicht wahnsinnig freundlich, aber eigentlich okay. Jedenfalls hat sie mir gezeigt, wo wir bei Romeo und Julia stehen geblieben waren, und mir ein paar Sachen erklärt.
Alle gehen langsam an ihre Plätze, und ein dröhnendes Stimmengewirr erfüllt den Raum, verstummt aber abrupt, als die Vordertür aufgeht.
»Das ist der Direktor: Mr Rickson«, zischt mir Julie ins Ohr.
Er trägt einen blauen Anzug, der am Bauch nicht ganz zugeht, und steht sehr gerade, um es zu kompensieren. Sein Blick wandert kalt durch den Raum und bleibt immer wieder an einzelnen Schülern hängen, als wollte er sagen:
Ich behalte euch alle im Auge.
Trotzdem bin ich mir nicht ganz sicher, ob alle
seinetwegen
so still und stocksteif dasitzen oder wegen der beiden Männer und der Frau, die hinter ihm den Raum betreten.
Ihre Gesichter geben nichts preis und sie tragen alle graue Jacken und Hosen.
»Lorder«, sagt Julie im leisesten Flüsterton, so zaghaft, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich das Wort höre oder es mir einbilde.
Es sind dieselben Wachleute, die wir bei der Landwirtschaftsausstellung gesehen haben und die allein durch ihre Anwesenheit die Menge zum Schweigen gebracht haben – genau wie jetzt. Und genau wie an diesem Tag verkrampft sich mein Magen zu einem kalten Knoten der Furcht.
Wer oder was sind Lorder? Irgendwie weiß ich es, aber gleichzeitig auch nicht. Und dann fällt mir mein Traum wieder ein. Der explodierende Schulbus, überall tote Schüler und das Schild an dem Gebäude neben dem Bus:
London Lorder Office
. Aber wenn es nur ein Traum war, etwas, das mein Unterbewusstsein erfunden hat, nachdem ich das Mahnmal gesehen habe – was haben dann die
Lorder
dort zu suchen, wenn ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wusste, dass sie existieren? Vielleicht war es also doch nicht nur ein Traum. Vielleicht waren Lorder das wahre Ziel der Bombe, die den Schulbus zerstört und die Schüler getötet hat. Aber wenn es kein Traum war … Warum war ich dann dort? Vor sechs Jahren war ich erst zehn. Das Ganze ergibt einfach keinen Sinn.
Die Lorder stellen sich an die Seite der Bühne und haben keine eigentliche Funktion: Aber sie hören und sehen alles.
Rickson spricht zur Versammlung, und ich zwinge mich, meinen Blick von den drei Gestalten abzuwenden, um mich auf ihn zu konzentrieren. Ich gebe mir alle Mühe, ihm zumindest mit einem Teil meines Hirns zuzuhören, während der Rest immer noch vom Schock wie gelähmt ist. Mr Rickson spricht über die akademischen und sportlichen Leistungen der Schüler. Er erwähnt, dass das Geländelauftraining am Sonntag weitergeht, und er hofft, dass viele von uns teilnehmen werden. Dann nennt er die Namen der Schüler, die sich im letzten Jahr für das Landesfinale qualifiziert haben. Probetrainings für die Teams werden nächsten Monat abgehalten. Zum Abschluss lässt er uns mit besorgter Stimme wissen, dass manche Schüler noch immer nicht ihr Potenzial ausschöpfen und dass wir uns alle mehr anstrengen sollen.
Julie
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