Gelöscht (German Edition)
Gesicht, um seine Lippen zu berühren …
Er schüttelt bedauernd den Kopf und tritt einen Schritt zurück. »Wir müssen reden. Wir haben nicht viel Zeit.«
Meine Hand sinkt wieder nach unten.
Er lehnt sich im Schatten an die Mauer, doch er spricht nicht. Die Blätter rascheln im Wind, der Stein unter mir fühlt sich eiskalt an, und jetzt, da wir nicht mehr laufen, bildet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen und Beinen, und ich schaudere.
Er kommt näher und nimmt meine Hand.
»Mir hat das Laufen mit dir gefehlt«, beginnt er. Ich konnte ihm eine Nachricht zukommen lassen, dass ich nicht mehr auf die Laufbahn der Schule darf.
»Mir auch.«
»Du hast mich vermisst?«
»Das Laufen«, sage ich und er hebt eine Augenbraue. »Und dich«, gebe ich zu. Ben grinst: Er wusste es die ganze Zeit. Er wollte nur, dass ich es sage.
»Na ja. Das mit dem Laufen kann ich verstehen. Nur wenn ich Gas gebe, kann ich mich auf Dinge konzentrieren und nachdenken. « Er runzelt die Stirn. »Aber die ganzen Sachen, die du mir am Samstag erzählt hast – das bekomme ich nicht mal beim Joggen aus dem Kopf.«
In meinen Ohren hallen Mrs Alis Worte wider.
Exzessives Training trickst die Überwachungsmöglichkeiten deines Levos aus.
Und ich merke, dass ich Ben nur so sehen kann, wie er wirklich ist, wenn er läuft – und nicht als den lächelnden Slater wie bei unserem ersten Treffen. Als würde es ihn
befreien
.
Er lässt meine Hände los und macht einen Schritt zurück. »Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, was mit Tori passiert ist.«
Ich schlinge meine Arme um meinen Körper, um den Schmerz zu verstecken. Tori ist der Geist, der immer zwischen uns steht. Dann schüttle ich den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Nein, kein Geist! Das kann sie nicht sein. Oder doch?
»… und mit Phoebe, deinem Kunstlehrer und all den anderen, die verschwunden sind. Was ist mit all den Vermissten auf der Webseite geschehen, von der du mir erzählt hast? Nach allem, was ich herausgefunden habe, wird es immer schlimmer. Immer mehr Menschen verschwinden.«
»Komm mit mir mit. Montag nach der Schule, dann siehst du es selbst. Lass uns nachschauen, ob du auf der Webseite stehst.« Ich habe das Versprechen gebrochen, niemandem davon zu erzählen. Doch es ist nicht irgendjemand, es ist Ben und ich vertraue ihm. Trotzdem liegt mir die Schuld schwer im Magen.
»Aber die Sache ist die, Kyla: Ich will nicht. Ich will es nicht wissen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du
bist vermisst gemeldet. Jemand sorgt sich um dich, sie wollen dich zurückhaben. Was, wenn mich niemand will und ich deshalb hier bin? Wie bei Tori – ihre neue Mutter hat einfach beschlossen, dass sie sie nicht mehr haben will. Was, wenn mich meine echten Eltern loswerden wollten?«
»Aber so läuft es nicht. Du musst wegen irgendetwas verhaftet und verurteilt worden sein, du musst etwas angestellt haben, um geslated zu werden.« Doch ich höre, wie die Worte aus meinem Mund kommen und falsch klingen. Langsam verstehe ich die Tragweite der Verschwörung um diese vermissten Kinder. Es sollte so sein, dass sie eines Verbrechens schuldig sind, aber so ist es nicht immer – nicht wenn diese Webseiten echt sind. Man kann sich ja nicht darüber beschweren, dass man geslated wurde. Wenn es passiert ist, erinnert man sich an gar nichts mehr. Und Leute, die zu Recht verurteilt wurden, werden nicht vermisst. Die Eltern verurteilter Straftäter würden wissen, was mit ihren Kindern geschehen ist.
»Jetzt kapierst du’s, oder?«, fragt Ben.
Ich nicke. »So weit habe ich nicht gedacht.«
»Also, warum sollte ich es herausfinden wollen? Was soll das bringen? Ich erinnere mich sowieso an nichts aus meinem früheren Leben. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch und meine jetzige Familie ist in Ordnung, sogar mehr als das.«
Da fällt mir auf, dass ich fast gar nichts über Bens Familie weiß. »Erzähl mir von ihnen«, bitte ich ihn. Wir laufen wieder Richtung Straße und zur Gruppe. Ben erzählt mir von seinem Vater, einem Grundschullehrer, der gern Klavier spielt, und seiner Mutter, die das Milchgeschäft führt, Metallskulpturen herstellt und keinen Ton halten kann. Seine Eltern konnten keine eigenen Kinder bekommen und nach drei Jahren bei ihnen sind sie ihm ans Herz gewachsen – warum also alles durcheinanderbringen?
Ich höre ihm zu, aber ein Teil von mir denkt an das, was er vorhin gesagt hat:
Was, wenn mich niemand will?
Und ich denke:
Ich will dich
.
Aber das sage ich
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