Gelöscht (German Edition)
bemerkt hätte.
Reiß dich mal zusammen.
Diesmal schaffe ich es, meinen Blick abzuwenden, bevor er sich wegdreht. Ich balle unter dem Tisch meine Hände zu Fäusten, damit sie nicht zittern.
Hatten beendet die Vorstellungsrunde und fängt mit der Stunde an. Er leiht sich das Heft eines Schülers, um zu sehen, bei welchem Kapitel wir sind. Letztes Mal hatten wir mit einem neuen Abschnitt zum Thema biologische Klassifizierung begonnen.
Hatten klappt das Heft wieder zu und sagt: »Heute machen wir etwas anderes. Eine Konzentrationsübung.« Er zeigt auf Ben und mich. »Ihr beide helft mir bitte dabei. Holt die Gehirnmodelle und verteilt sie – eins pro Zweiertisch.« Ben springt auf und ich folge seinem Beispiel. Wir nehmen kleine Kästchen aus dem Schrank, auf den Hatten zeigt.
Darin sind dreidimensionale Modelle des Gehirns. Die einzelnen Teile der Modelle sind nummeriert und fügen sich ineinander wie ein Puzzle. Die Minuten vergehen, während jede Arbeitsgruppe ihr Gehirn auseinandernimmt, es wieder zusammensetzt und dabei den Namen jedes Teilstücks mit Nummer auf einem Arbeitsblatt notiert. Kleinhirn, Hirnstamm, frontaler Cortex, linke Hirnhälfte, rechte Hirnhälfte … Das Diagramm erinnert mich an den Scan meines Kopfes, den ich auf Dr. Lysanders Computer gesehen habe. Mit dem Unterschied, dass dieses Abbild echt war.
»Hört mal zu«, unterbricht uns Hatten. »Eine Sache noch: Haltet mal eure Hände so zusammen, dass sie einen kleinen Kreis ergeben, durch den ihr durchschauen könnt.« Er zeichnet ein X auf die Tafel. »Jetzt streckt eure Arme aus. Schaut mit beiden Augen durch den Kreis eurer Hände auf das X. Wenn ihr ein Auge schließt, sollte das X verschwinden. Wenn ihr das andere schließt, sollte es immer noch in der Mitte sein.«
Wir befolgen alle seine Anweisungen. Ich halte die Hände hoch und schaue auf das X. Und tatsächlich, wenn ich mein linkes Auge schließe und mit dem rechten durch den Kreis schaue, ist das X von meiner Hand verdeckt. Wenn ich mein rechtes Auge schließe und mit dem linken schaue, ist es genau in der Mitte.
Hattens Blick schweift durch den Raum und bleibt dann an mir hängen. »Kyla, welches Auge hat das X gesehen?«
»Das linke«, antworte ich.
Er lächelt. »Interessant. Du musst eine biologische Anomalie sein.«
Ich erwidere nichts. Er fährt fort: »Für gewöhnlich ist das dominante Auge auf der gleichen Seite wie die dominante Hand. Wenn du das X mit dem linken Auge gesehen hast, solltest du Linkshänderin sein. Und dennoch hältst du den Stift gerade in der rechten Hand, Kyla. Wie sieht es bei euch anderen aus? Stimmen bei euch das dominante Auge und die dominante Hand überein?« Gemurmel wird laut. Ich rutsche unbehaglich auf meinem Stuhl herum.
»Okay, die Stunde ist fast um«, sagt Hatten. »Aber ihr fragt euch vielleicht, was dieses letzte Experiment mit der Arbeit an den Gehirnmodellen zu tun hat.« Sein Blick ist immer noch auf mich gerichtet. Er spricht nicht zu allen Schülern, sondern nur zu mir.
»Dieser Versuch war eine der wichtigsten Entdeckungen in der Gehirnforschung – der Einfluss der Händigkeit auf die Entwicklung und Organisation des Erinnerungsspeichers und -zugangs. Wenn du Linkshänder bist, ist der Erinnerungszugriff in der rechten Gehirnhälfte dominant, wenn du Rechtshänder bist, verhält es sich genau anders herum. Doch bei ein paar wenigen Menschen gilt diese Regel nicht: Oft scheinen Menschen mit künstlerischen Fähigkeiten in der Lage zu sein, ihr Gehirn anders zu verwenden.« Endlich schaut er von mir weg, lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, bis er wieder zu mir zurückwandert. »Das ist alles sehr wichtig bei einer Behandlung und einer Operation am Gehirn.«
Operation.
Geslated werden.
Die Schulglocke läutet. Ende der Stunde.
»Gebt eure Arbeitsblätter auf dem Weg nach draußen ab!«, ruft Hatten noch.
Alle räumen ihre Sachen zusammen und legen die Bücher weg.
Rechtshänder … Linkshänder. Meine Linke ballt sich von allein zur Faust – meine linken Finger sind mit einem Stein zertrümmert worden. Aber das war nur ein Traum.
Oder doch nicht?
»Kyla?« Ben gibt mir einen Schubs. »Los, komm.« Ich schüttle mich innerlich und stehe auf. Mit Bleifüßen nähere ich mich dem Pult, so langsam, dass ich nach Ben die Letzte bin, die den Raum verlässt. Mrs Ali wartet bereits an der Tür auf mich.
Ich lege mein Blatt ganz oben auf den Stapel, den Mr Hatten in den Händen hält.
»Fandest du den
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