Gemordet wird immer
Prediger kam zum Ende, und der Schulfreund stand unter Räuspern auf. Viktor murmelte im Geiste die Fürbitten mit, die er selbst verfasst hatte. Der Redner versprach sich nur zweimal. Dann erklang wieder Musik.
Viktor fragte sich, wie das wohl auf der Beerdigung Bulhaupt werden würde. Mit der Verpflichtung der Kesselring hatte er ja bereits für einen besonderen Akzent gesorgt. Aber er hatte keine Wahl gehabt; wie hätte er ihr seinen Besuch sonst erklären sollen? Ob die Mutter danach Oper würde hören wollen?
Während sein Blick über den Absenkmechanismus wanderte, kam ihm der Gedanke, dass Tobias dazu wohl eher »Ring of Fire« singen würde. Er hörte eindeutig zu viel Radio. Ob es etwas bringen würde, ihn mit klassischer Musik vertraut zu machen? Eine mathematische Begabung hatte er mit Sicherheit, so wie er sich Zahlen merken konnte. Oder war das ein fotografisches Gedächtnis? Und wenn ja, wieso funktionierte es bei Buchstaben nicht?
Erst als sein Name zum dritten Mal gerufen wurde, fuhr er aus seinen Gedanken auf. »Ja, bitte«, sagte er automatisch und stand auf.
»Danke«, antwortete der Mann. Es war der Spätankömmling aus der letzten Reihe. »Ich bin extra den langen Weg von Freiburg hierhergekommen.«
»Ah, ja, das ist wirklich weit«, erwiderte Viktor mechanisch, während er verzweifelt versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was der Mann davor gesagt hatte.
»Wollen wir dann?«, fragte der Fremde und trat an den Sarg.
»Was?« Viktor folgte ihm.
»Nur ein kurzer Blick«, sagte der Mann und fügte, an den herantretenden Schwiegersohn gewandt hinzu: »Der Herr war so freundlich.« Damit wies er auf Viktor.
»Aber nur kurz«, meinte der, mit Blick auf die Kapellentür, die eben wieder von den Angestellten geöffnet wurde, sodass die Gäste hinausgehen konnten.
Einer der Männer hob den Arm und winkte Viktor heftig zu, kam aber gegen die hinausströmenden Trauernden nicht an.
Viktor hatte sich bereits hinuntergebeugt und hob den Deckel an, der zum Glück nicht verschraubt war. »Bitte sehr«, sagte er und trat beiseite.
Stille. Die Witwe stieß einen spitzen Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Der Schwiegersohn konnte sie gerade noch auffangen.
»Machen Sie um Himmels willen das Ding zu«, herrschte er Viktor an.
Der gehorchte verdattert. Der leere Sarg machte ein hohles Geräusch.
»Ich hatte ihn dicker in Erinnerung«, sagte ein Spaßvogel aus der vierten Reihe und erntete von seiner Frau einen strafenden Blick.
Schwer atmend von seinem Kampf gegen das Gewühl trat der Kapellendiener an Viktors Seite. »Das ist ein Show-Sarg«, zischte er. »Der steht hier immer. Die Leiche liegt längst unten im Krematorium. Dachten Sie, dass wir einen massiven Eichensarg für 1500 Euro verbrennen?«
Zu Hause tigerte ein schwer erzürnter Wolfgang Anders vor seinem Neffen auf und ab. »Es stand alles in den Unterlagen«, raunzte er. »Der Mann hatte eine Billigbeerdigung bestellt, Kremation und anschließend anonyme Beisetzung. Da gibt es keinen Sarg. Das Krematorium stellt nur eine Attrappe, damit man vor irgendwas die Trauerfeier abhalten kann. Das musst du doch wissen.«
»Wieso muss ich das, beim allerersten Mal?« Viktor gab sich nicht geschlagen. »Das glaubt doch kein Mensch, dass wir da alle vor einer leeren Kiste heulen. Das ist doch absurd.«
»Die nächsten Angehörigen wussten das ja auch. Nur der Witwe haben wir die Details erspart. Wir wollten sie nicht aufregen. Aber das hast du ja nun gründlich versaut.«
»Klar, ich mal wieder.« Viktor war sauer. »Du zitierst mich da alleine hin und schweigst dich aus. Vermutlich hast du nur darauf gewartet, dass ich einen Fehler mache.«
»Mit diesem Wunsch konnte doch nun wirklich keiner rechnen«, versuchte Tante Hedwig zu vermitteln.
»Machst du das Radio an?«, fragte Tobias, nun schon zum zwanzigsten Mal.
»Nein«, riefen alle drei im Chor. Dann herrschte Stille. Tante Hedwig ging zum Radioapparat und stellte Bayern 3 ein. Glücklich summte Tobias Lady Gagas »Bad Romance« mit.
»Wieso kann er eigentlich Zahlen auswendig, aber keine Buchstaben?«, fragte Viktor.
»Lenk nicht ab«, fuhr sein Onkel ihn an. »Wir sprechen über dein jammervolles Versagen.«
Tante Hedwig antwortete. »Er kann nicht lesen, Schätzchen.«
»Und wieso blättert er dann die Zeitung durch?«
»Er sucht die Bilder. Er liebt Bilder.«
»Können wir jetzt mal weiter darüber reden, wie wir unser Unternehmen vor dem Ruin bewahren? Bitte!«
»Hast du es
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