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Gemordet wird immer

Gemordet wird immer

Titel: Gemordet wird immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Korber
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an einem so grauen Tag wie heute. Unwillkürlich trat er an die Glastür. Ob das Reh noch an seinem Platz hing?
    Das Schilf raschelte in dem stärker gewordenen Wind, aus dem Obergeschoss erklang gedämpft die Musik. Ein Haiku seines Sensei fiel Viktor ein. Dieser Garten hätte ihm sicher gefallen. Im Gegensatz zu den Menschen, denen er gehörte, dachte Viktor. Obwohl es vielleicht falsch war, sich da ein Urteil zu erlauben. Der Sensei war sehr geduldig, was seine Mitmenschen anging. Er ließ gelten, was ihm begegnete. Andererseits hielt er zu allem eine so große innere Distanz, dass ihm seine Toleranz sicher nicht schwerfiel. Er hatte versucht, davon zu lernen. Seinen Abstand zu halten. Der Sensei hatte darüber gelächelt, wie über so vieles, was Viktor tat, nachsichtig, väterlich, aber ohne falsche Schonung. »Distanz«, hatte er gefragt in seiner sparsamen Sprache. »Hast du davon nicht schon genug?«
    Viktor wusste damals keine Antwort darauf. Und auch heute kam es ihm vor, als wäre zwischen seinen Ohren kein Hirn, kein Ich, kein wohlgeordnetes Irgendwas, sondern nur ein Haufen Puzzleteilchen, die nicht an ihren Platz fanden. Kein roter Faden, nur Details, Bruchstücke, flüchtige, absurde Details des Daseins. In dem Moment lief ein Hund über die Terrasse.
    »He!«, entfuhr es Viktor. Das Tier schnupperte mit der Schnauze dicht am Boden in lebhaften Windungen die Marmorplatten entlang. Als er ihn bemerkte, hob er kurz witternd die Schnauze. Viktor fing den alarmierten braunen Blick auf. Der Hund blaffte, zweimal, dreimal. Eine herrische Stimme hinter der Hecke zum Nachbargarten rief nach ihm, und das Tier warf sich herum, um ihr schwanzwedelnd zu folgen. Sprachlos sah Viktor ihn zwischen den Büschen verschwinden, ein Scharren, ein Rucken – offenbar musste er ein Hindernis überwinden –, dann war er auf dem Nachbargrundstück verschwunden.
    Das Klingeln seines Handys hielt Viktor davon ab, die Terrassentür zu öffnen, um sich das näher anzusehen. »Hast du die Aussegnung im Krematorium vergessen?«, blaffte sein Onkel.
    Viktor räusperte sich. »Natürlich nicht«, antwortete er gewissenhaft. »Ich bin schon unterwegs.« Er legte auf. »Scheiße!«
    Im Auto kramte er fluchend die Unterlagen heraus. Peter Haussmann, 57, Versicherungskaufmann. Ansprache durch einen freien Prediger, dann Fürbitten, gesprochen vom Bruder des Toten, danach ein Intermezzo auf Geige und Orgel. Zwei alte Schulfreunde würden spielen. Handschriftlich hatte sein Onkel vermerkt, dass die Witwe herzkrank war und schwere Beruhigungsmittel eingenommen hatte. Viktor bog auf den Parkplatz ein und band sich in aller Eile die Krawatte. Vor beiden Kapellen des Krematoriums standen Trauergemeinden, die Viktor verständnislos anstarrten, als er nach der Feier für Haussmann fragte. Schließlich fand er seine Schäfchen abseits hinter einem Baugerüst, sammelte sie zusammen und führte sie in den Trauerraum. Der Sarg stand bereits da, auf einer Bodenklappe, in der er anschließend, wie Viktor vermutete, versenkt werden würde, um unterirdisch und dantesk den Flammen entgegenzufahren. Er prüfte den Blumenschmuck und hakte unauffällig seine Liste ab. Die Gärtnerei hatte vorschriftsmäßig gearbeitet, die Rechnung stimmte. Er begrüßte den Prediger und die Angehörigen, ließ sich einige der Gäste vorstellen und stimmte noch einmal das Musikprogramm ab. Dann nickte er den Krematoriumsangestellten zu, die nickten zurück und schlossen die Türen der Kapelle von außen. Flüchtig dachte Viktor an »From Dusk till Dawn«. Nur die Musik war schlechter. Er hasste Orgel. Mit gesenktem Kopf tätschelte er der Witwe die Hand, die völlig unter Drogen stehend »Bach« murmelte. Man hörte Scarlatti.
    Die Tür öffnete sich während der Ansprache nur noch einmal für einen Nachzügler, einen Mann im grauen Anzug, der sich mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen einen Platz am Ende der Stuhlreihe suchte. Der Prediger sprach von der Hoffnung auf ein ewiges Leben und davon, dass diese Hoffnung nicht vergebens war, da wir alle in Christus geborgen wären.
    Viktor hielt die Witwenhand weiter und dachte, dass er Miriam anrufen müsste. Sie war schließlich wirklich in Ordnung. Andererseits war es vielleicht besser, die Sache jetzt auf sich beruhen zu lassen, solange das noch schmerzlos möglich war. Distanz. Er war Frauen gewohnt, die schlank und fröhlich waren. Und die nicht blieben.
    »Und so ist auch dieses Leben nicht vergebens gewesen.« Der

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