Gemordet wird immer
etwas in Ordnung, wenn man ein Verbrechen klärt«, erwiderte Viktor. »Aber das Gefühl habe ich gar nicht.« Er schaute sich um. »Das Radio ist aus«, stellte er fest. »Wo ist Tobias?«
»Schläft«, sagte seine Tante. »Er hatte heute einen anstrengenden Tag.« Sie seufzte, aber ihre Augen leuchteten. »Stell dir vor, gleich beim ersten Mal vor dem Computer hat er was getippt. Ach was, getippt. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Und man muss nicht einmal seinen Arm halten. Viktor, wir haben experimentiert, und es stellte sich heraus, es genügt, wenn ich hinter ihm stehe und meine Hand auf seine Schulter lege. Er muss sich spüren, weißt du.«
Wolfgang Anders schnaubte abfällig. ›Sich spüren‹; schon die Sprache war ihm zuwider. Er spürte schließlich auch nichts und kam glänzend zurecht.
»Ich hab mich heute phasenweise gefühlt wie Tobias«, gestand Viktor. »Die vielen Geräusche und Bewegungen haben mich fast in den Wahnsinn getrieben, schlimmer als nach jedem Kater. Alles hat mich gequält. Ich hab mir sogar auf die Oberschenkel geschlagen, bloß um mal was Solides, Vorhersehbares zu spüren. Und zu gerne hätte ich einfach laut geschrien. Schon irre.«
»Noch ’n Autist. Na Prost.« Wolfgang Anders hob seine Tasse.
Viktors Tante setzte sich neben ihn. »Für mich ist das eine neue Welt«, gestand sie. »Du musst dir vorstellen: Mein Kind kann lesen, es kann schreiben. Es kann denken. Dabei hatten wir ihn in einem Stadium aufgegeben, in dem er einen Turm aus kleiner werdenden Förmchen nicht korrekt aufeinanderstapeln konnte.« Sie zerdrückte tatsächlich ein paar Tränen. »Weißt du, was er heute geschrieben hat?« Sie zog ein zerknautschtes Blatt Papier aus ihrer Schürze: »Denke, aber denke laut«, las sie vor. »Sonst glaubt dir keiner.« Sie schaute ihn an.
Viktor hatte Kopfschmerzen. Er bemühte sich zu lächeln.
»Natürlich funktioniert Tobias’ Denken anders als unseres«, fuhr seine Tante, langsam in Fahrt kommend, fort. »Die Therapeutin sagt, wir haben noch einen langen Weg vor uns. Sie sagt, es kann auch zu Rückschlägen kommen. Und dass es vor allem auf der Verhaltensebene durch die vielen neuen Dinge in Tobias’ Leben erst einmal zu Problemen kommen kann …«
Wolfgang Anders goss seinen letzten Rest Tee in den Abfluss und ging zur Tür. »Dann begebe ich mich jetzt mal auf die Schlafebene«, erklärte er. »Damit ich fit bin für eventuelle nächtliche Rückschläge. Auf der Verhaltensebene.« Er nickte knapp und ging.
»Es ist neu für ihn.« Hedwig lächelte entschuldigend. »Er ist es nicht gewohnt, seinen Sohn ernst nehmen zu müssen.«
»Er ist es nicht gewohnt, irgendjemanden ernst zu nehmen.«
Seine Tante ging nicht darauf ein. Sie war wieder bei ihrem Thema: Was die Therapeutin alles gesagt und was Tobias getan hatte, was nun möglich, was wahrscheinlich, was kritisch und was wunderbar war.
Viktor wurde müder und müder, während ihr Redefluss über ihn hinwegschwappte. Schließlich, ganz kurz vor dem Wegnicken, stieß er auf einen Gedanken. »Tante Hedwig?«, fragte er mitten in einen Satz hinein.
»Ja?« Sie schaute überrascht auf. In ihren Augen lag noch das begeisterte Strahlen, als er seine Frage stellte: »Was ist aus Hannahs Tagebuch geworden?«
Das Lächeln seiner Tante erlosch. »Das Tagebuch«, sagte sie tonlos. Sie stand auf und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ich koche uns noch einen Tee.«
Er hielt sie an der Hand fest. »Ich kippe gleich aus den Latschen«, gestand er. »Aber das will ich vorher noch wissen.«
Sie gab plötzlich nach. »Ja, das Tagebuch. Irgendwie ist es komisch, dass du gerade jetzt und hier damit anfängst.« Seine Tante setzte sich wieder an den Tisch. »Deine Mutter und ich, wir haben nämlich so oft hier miteinander gesessen, bis spät in die Nacht, an diesem Tisch, unter dieser Lampe, und haben uns unterhalten. So wie wir jetzt.« Sie machte eine Pause. »Damals, als Hannah … Als sie von uns gegangen war. Wir hatten das Tagebuch in ihren Sachen gefunden, genauer gesagt, die Polizei hatte das. Aber wir bekamen es wieder zurück. Und da saßen wir dann. Nächtelang. Ich weiß gar nicht mehr, wo wir die Kraft dafür hernahmen. Wir haben geblättert und geblättert. Mit der Lupe haben wir es versucht und sogar mit einem Wörterbuch. Wir wollten eine Antwort, Viktor. Die wollten wir. Genau wie du. Warum sie das getan hat. Aber wir haben keine gefunden. Schließlich hat dein Vater uns das Buch
Weitere Kostenlose Bücher