Gemordet wird immer
weggenommen. Er sagte, es wäre nicht gut für deine Mutter. Vermutlich hatte er recht, sie hat damals schon Tabletten genommen, weißt du?«
Sie stand wieder auf. »Wo er es hinhat, keine Ahnung. Ich habe es seit damals nicht mehr gesehen.« Sie ging zum Wasserkocher und machte sich daran zu schaffen.
»Hat Papa es verbrannt?«, fragte Viktor.
Überrascht drehte sie sich um. »Nein«, sagte sie. »Es war schon so. Das muss Hannah getan haben. Kurz bevor sie … Kamille oder Pfefferminz?«
Viktor konnte sich nicht aufraffen, darauf eine Antwort zu geben.
Sie kam zurück mit einer vollen Kanne, stellte sie ab und legte ihre Hand auf seine. »Wir haben es uns nicht so einfach gemacht, wie du vielleicht denkst, Viktor. Aber am Ende haben wir sie gehen lassen. Und das musst du auch.«
Viktor blieb einen Moment still sitzen. Dann zog er seine Finger aus ihrer Berührung, stand auf und ging ohne ein Wort hinaus.
In seiner Wohnung angekommen, stand er eine Weile einfach nur herum. Er konnte sich nicht entschließen, irgendetwas zu tun, nicht einmal, sich einfach hinzusetzen. Schließlich ging er zum Telefon.
»Ich habe mich wie ein Idiot benommen«, begann er.
Miriam setzte sich im Bett auf. »Ich habe schon mit deinem Anruf gerechnet«, sagte sie. Ihre Stimme klang angespannt.
»Ich muss einfach mit jemandem reden. Es ist so viel passiert.« Viktor ließ sich in einen Sessel nieder.
»Hier ist auch viel passiert.«
»Sicher, entschuldige, ich …«
»Unter anderem habe ich herausgefunden, warum deine Schwester gestorben ist.«
Mit einem Schlag saß Viktor kerzengerade da. Sein Gehirn ratterte. Schließlich begriff er: der Vanilleduft in seinem Zimmer. »Du hattest bei mir rumgeschnüffelt. Du hast das Tagebuch.«
»Da stand es nicht drin, falls dich das tröstet.«
»Warum hast du das gemacht?«
»Weil ich dir wehtun wollte.« So wie sie es sagte, klang es wie eine Frage. »Vielleicht auch, weil ich immer noch nicht von der Idee losgekommen bin, dir zu helfen, etwas herauszufinden, und dadurch dann deine Aufmerksamkeit zu gewinnen.«
»Du hast meine volle Aufmerksamkeit«, versicherte Viktor ihr.
»Ja, klar.« Sie schluchzte hörbar und schluckte dann die Tränen hinunter.
»Immerhin habe ich dich angerufen. Dich, niemand sonst.«
»Und warum, Viktor, warum hast du das getan?«
»Weiß ich nicht.« Er wand sich.
»Solltest du aber«, antwortete sie knapp.
»Was willst du hören?« Er wurde wütend. »Dass ich besinnungslos verliebt in dich bin? Dass ich es mir wegen irgendeines Psychodefektes bloß nicht eingestehen kann? Dass ich bloß geheilt werden muss und dann ohne dich und deinen viel zu breiten Arsch nicht mehr leben kann?«
Sie umklammerte den Hörer und biss sich auf die Lippen. »Das wird dir noch leidtun«, sagte sie leise.
»Miriam, bitte«, er wurde wieder ruhiger. »Das sind doch alles Spielchen. Blöde Spielchen. Die wir lassen sollten. Tut mir auch leid, echt. Du und ich, wir haben uns doch so gut verstanden.«
»Dachte ich auch.« Sie lachte bitter. »Aber immer nur, wenn du was von mir wolltest, oder?«
Jetzt war es an ihm, den Mund zusammenzupressen. »Bitte«, brachte er nur hervor.
»Nein«, sagte sie. Mehr nicht. Dann legte sie auf.
Viktor starrte auf den Hörer in seiner Hand.
37
Viktor kam einen hohen Stapel Bücher balancierend in die Küche, wo ihn Tante Hedwig mit einem Schwall von Fragen empfing. »Warst du auf dem Einwohnermeldeamt? Ist die Blumenbestellung aufgegeben? Hast du dich um die Reparatur des Kopierers gekümmert? Haben die Schmidts sich schon wegen des Friedwaldes entschieden?«
»Ja«, sagte Viktor und legte den Bücherstapel auf den Tisch. »Und hier sind die Bildbände, die Tobias haben wollte.« Er sortierte. »Europäische Schmetterlingsarten. Asiatische Falter. Was über diesen amerikanischen Schmetterling, der über den halben Kontinent wandert.« Er lächelte seinen Cousin an. »Wenn die sich sammeln, kann man das angeblich sogar im Weltall sehen. Ach ja, und hier ist noch was, das sieht spannend aus. Über Nachtfalter und Motten.«
Er versuchte, Tobias einen Band in die Hand zu drücken, der aber schrie und warf ihn fort.
»He«, rief Viktor empört und hob das misshandelte Buch vom Boden auf. Er blies den Staub herunter. »Was hast du gegen Nachtfalter?«
Tobias schlug sich auf den Kopf, dann hielt er inne und wandte sich dem Laptop zu, den seine Mutter ihm am Vortag gekauft hatte. Ihre Hand auf seiner Schulter, tippte er: »Sie
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