Gemordet wird immer
den wenigen verbliebenen Spitzen in der Hoffnung, so die verkrampfte Lidspalte zu lockern. Das Telefon klingelte im selben Moment, in dem das Auge mit einem rülpsenden Geräusch aufsprang.
»Jesus Maria«, schrie Hedwig und griff sich an die Brust. Tupfer voll geronnenen Blutes quollen ihr entgegen aus der dunkelroten Grotte, in deren Zentrum eine weiße Plastikkugel glotzte.
»Sie haben mich erschreckt«, quietschte sie in den Hörer.
»Das tut mir leid.« Karoline Schneid zog vor ihrem Assistenten ein Gesicht, das besagen sollte: Völlig plemplem.
»Nein, ich meine, schon gut. Oh verdammt«, rief Hedwig, die mit der freien Hand versuchte, den Schaden wiedergutzumachen und die Tupfer zurückzustopfen. »Jetzt ist mir das Auge herausgefallen.« Sie bückte sich, um der weißen Kugel nachzusehen, die über den glatten Boden davonrollte. »So ein Mist.«
»Frau Anders?« Karoline Schneid holte tief Luft. »Können Sie mir bitte ohne weitere Details einfach sagen, wo Ihr Neffe ist? Er geht nicht an sein Handy.«
»Habe ich das nicht schon gesagt? Er bringt seinen Cousin ins Tierheim und den Hund zur Logopädie. Nein, andersherum. Verflixt. Tobias ist doch Autist.« Sie war auf die Knie gegangen und krabbelte unter der Liege durch.
»Verstehe.« Karoline Schneid atmete tief aus. »Falls Herr Brückner sich bei Ihnen meldet, sagen Sie ihm doch einfach, wo sein Terrier ist, ja?«
»Der Mörder kommt hierher?« Für einen Moment war Hedwig Anders entsetzt. »Ach so«, fiel es ihr dann ein. »Er war es ja gar nicht. Aber sagen Sie mal.« Sie streckte die Hand aus und bekam die Kugel zu fassen. »Wer war es denn dann eigentlich?«
39
Viktor stieg auf die Bremse. Dort vorne ging es in die Straße, in der das Haus der Bulhaupts stand. Er tastete nach seiner Brusttasche und spürte das Foto von Maria darin. Die Ampel sprang um auf Grün. Er musste sich entscheiden. Hinter ihm hupte jemand. Mit einem leisen Fluch lenkte er nach links.
»Wohin?«, fragte Tobias sofort alarmiert, der, obwohl er alleine auf der Straße verloren gewesen wäre, dennoch ein feines Gespür für Strecken und eben auch für die Abweichungen davon besaß. Sobald er eine Route zweimal gefahren war, kannte er sie in- und auswendig und beäugte alarmiert jede Variante, Veränderung oder auch nur eine ungewöhnlich lange Ampelschaltung.
»Ich muss noch schnell etwas erledigen.« Viktor, der das Haus der Bulhaupts auftauchen sah, fuhr rechts ran. »Sieh es positiv, dafür darfst du länger mit dem Hund zusammen sein.« Er wartete Tobias’ Antwort nicht ab. Mit seinen Nachforschungen war er bisher so erfolgreich gewesen, dass er diese eine Sache nicht auf sich beruhen lassen konnte. Die würde er auch noch aufklären. »Also, bleib schön sitzen und warte auf mich, ja?« Er warf die Tür zu und rief noch durch die Scheibe: »Und schmeiß den Hund nicht aus dem Fenster, sonst ist er weg.«
Dann joggte er quer über die Straße zu Bulhaupts Haus.
Tobias sah ihm besorgt nach. Er schaute abwechselnd seinem Cousin hinterher und dann auf den Hund, der auf seinem Schoß herumtänzelte und mit der Schnauze Schlieren an die Scheiben malte. Tobias’ Hände ruckten, flatterten herum und kamen für Sekunden wieder zur Ruhe. »Guter Hund«, murmelte er, »musst sitzen. Weil es regnet. Weil es dauert nicht lange. Es dauert lange, weil es regnet. Musst bei den Sitzen bleiben, weil der Regen.« Mit einem Mal überwältigte ihn die Unruhe. Er zog am Griff und öffnete die Autotür. Sofort flitzte der Terrier hinaus. Er schien das heimische Terrain zu kennen, denn er lief direkt auf den Bulhaupt’schen Garten zu.
Tobias folgte ihm weit zögerlicher. Als er endlich seine Abneigung überwunden hatte, die Füße auf den Boden zu stellen, war von dem Tier schon nichts mehr zu sehen. Leicht alarmiert setzte Tobias sich in Bewegung, vage in die Richtung, in die der Hund verschwunden war. Weil ihm auf dem Gehsteig aber jemand entgegenkam, bog er kurz entschlossen nach links ab und fuhr mit der Hand durch die Blätter einer Hecke. Als sie abknickte, folgte er ihr nach links und landete schließlich auf einem verwirrend freien Platz. Ein Kreisverkehr nagelte ihn lange an die Gehsteigkante, ohne dass er sich entscheiden konnte, welche Richtung er einschlagen sollte. Auf der anderen Seite aber lockte etwas, das Tobias alles andere vergessen ließ: Die Fontäne eines Springbrunnens stieg weiß und sprudelnd in den Himmel und schäumte zurück in ein großes rundes Becken,
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