Gemordet wird immer
zurück. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte gelang es ihr, die Beine anzuheben und herumzuschwenken. Sich mit beiden Händen vom Kissen abstoßend, saß sie schließlich aufrecht auf der Bettkante. Ihre geisterhaft bleichen Füße baumelten einige Handbreit über dem Boden. Erbittert betrachtete sie die hornhautschuppigen, von lila Adern knubbelig durchzogenen Dinger mit den verformten Zehen. Was hatte sie einst für schöne Füße gehabt. Ihr Kapitän hatte sich verliebt in ihre Füße, er hatte einst Küsse darauf gedrückt. Vorbei. Aber noch nicht verloren. Amalie Bulhaupt holte tief Luft. Sie war noch lange nicht tot. Das Flittchen würde sich noch wundern.
Langsam, Zentimeter für Zentimeter, schob sie sich dem kalten Boden entgegen. Falls sie nicht hinfiel, hatte sie eine Chance.
38
Karoline Schneid wühlte in ihrer Handtasche. Zahlreiche Pillen rasselten in ihren Schachteln und Fläschchen. Endlich hatte sie das Richtige gefunden. Sie öffnete den Schraubverschluss, stippte ihren angefeuchteten Finger in das Pulver und rieb es sich mit routinierten Bewegungen auf das Zahnfleisch.
Sie war ein effektiver Mensch. Sie hatte eine Menge Pflichten und einen engen Zeitplan. Niemals würde sie zulassen, dass lästige körperliche Schwächen, Gefühle oder gar Stimmungen sie in ihrer Arbeit behinderten. Der Psychiater, der ihr die Rezepte für ihr Antidepressivum besorgte, versicherte ihr jedes Mal, dass sie nicht depressiv sei. Angesichts ihres anhaltenden Burn-out-Syndroms und der hohen Belastung in ihrem Beruf, fuhr er dann aber regelmäßig fort, wenn er ihr ausdrucksloses Gesicht sah, könne er es vielleicht doch noch einmal vertreten, ihr das Medikament zu verschreiben.
Sie wartete das Ende seiner Selbstrechtfertigung jedes Mal gelassen ab und steckte dann wortlos das Rezept ein. Sie fand, dass nichts dabei sei, Antriebslosigkeit und Zweifel durch eine Chemikalie zu bekämpfen. Wenn es funktionierte, umso besser. Auch Einschlafprobleme kannte Karoline Schneid nicht. Eine kleine Dosis Melatonin, und schon hatte man sechs Stunden ungestörten Nachtschlaf und konnte weitermachen. Wozu sich lange im Bett wälzen, wenn es eine einfache, funktionale und nicht einmal süchtig machende Alternative gab? Nicht süchtig zu sein war ihr wichtig. Niemals hätte sie geraucht oder getrunken oder ihre inneren Organe sonst wie anhaltend geschädigt. Sie war Leistungssportlerin. Ihr Körper war ihr Tempel. Sie optimierte ihn nur gerne. Erkältungen und Kopfschmerzen wurden unter Aspirin erstickt, für den Morgen gab es Koffein, gegen zitternde Hände Tavor. Für Entspannung, denn auch das war manchmal nötig, wenn auch selten, sorgte ein wenig Hasch in Sahnejoghurt. Und Traurigkeit ließ sie gar nicht erst zu.
Schwermut war einfach unpraktisch. Ihre Mutter hatte sich davon kaputtmachen lassen. Und sie hatte ihr dabei zugesehen, so viele Jahre lang. Karoline Schneid schüttelte den Kopf. Wo stand geschrieben, dass Gefühle authentisch waren und respektiert werden mussten? Es gab dumme und unproduktive Gedanken, und es gab ebensolche Empfindungen. Vor allem gab es eine Art von Traurigkeit, die zu nichts gut war, die nichts bewältigte und nirgendwo hinführte. Die niemals besser wurde. Sie löschte einen nur langsam aus. Das würde ihr niemals geschehen. Nicht, solange sie die Dinge in der Hand hatte. Und mit ihren kleinen chemischen Helfern war sie strategisch im Vorteil gegenüber allem, was da kam, seien es ihre Gene oder das Schicksal.
Für die langen Schichten war Kokain derzeit das Mittel ihrer Wahl. In Maßen natürlich. Das Zeug, das man am Bahnhof bekam, war ohnehin so gestreckt, dass es in keiner Weise mehr halluzinogen wirkte, jämmerlich aus gewisser Sicht, aber für sie genau das Richtige. Sie war nicht auf Selbsterfahrung aus und interessierte sich nicht für Grenzüberschreitungen. Das war New Age. Drogen hielten sie einfach nur wach und gaben ihr das Gefühl, ewig weitermachen zu können. Sicherheitshalber schluckte sie noch ein Eisen- und Vitaminprodukt und eine Kapsel Zink.
Als ihr Assistent hereinkam, saß sie gelassen da und klapperte mit einem Bleistift gegen ihre Zähne, während sie zum x-ten Mal die Tatortprotokolle durchging.
»Er ist jetzt weg«, stellte er fest. »Musste das wirklich sein?«
»Die Ergebnisse der Spurensicherung waren eindeutig.« Sie wies mit der Spitze des Stiftes auf den Bericht. »Seine Fingerabdrücke, Massen davon. Aber alle nur am Lauf, keine am Abzug. Die Kugel im
Weitere Kostenlose Bücher