Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
Dynamik die Mittelschicht, und zwar bis in die oberen Etagen hinein, eine zunehmende Diskrepanz zwischen Ich-Ideal und Ich-Realität wahrnimmt. Diese Diskrepanz wird umso schärfer erlebt, als die Besserverdienenden auf die zunehmende soziale Ungleichheit mit einer Verschärfung des Leistungsprinzips reagieren, dass also die Ansprüche an den eigenen Erfolg wachsen – aus dem Bedürfnis der Abgrenzung gegenüber den Verlierern. In der Folge dieser Entwicklung wächst auch die Beschämbarkeit. Das bleibt nicht folgenlos, wie man zum Beispiel an so unsäglichen Fernsehformaten wie dem »Dschungelcamp« beobachten kann. »Aus Scham und Beschämung entstehen ja viele andere Gefühle«, sagt Sighard Neckel. »Gefühle der Depression, aber auch Gefühle der Aggression. Wir können viele Entwicklungen beobachten, in denen sich Scham beispielsweise in Wut verwandelt, auch die Wut der beschämten Person darüber, beschämbar gewesen zu sein. Man ärgert sich über das eigene Gefühl der Beschämung und könnte ausrasten darüber, dass man sich in einer bestimmten Situation so schwach und verletzlich gezeigt hat, also wiederum sein Selbstbild selber unterboten hat, selbstständig und stark zu sein. Daraus können aggressive Gefühle entstehen, die wir gegen uns selber richten, aber vielleicht auch gegen andere, vielleicht gegen die, die uns beschämt haben, oder besser noch gegen die, die wir selber beschämen können.«
Scham und Ressentiment gehören zusammen, und Scham und Schweigen auch. Worüber man sich schämt, darüber schweigt man. Und tut lieber so, als ob man problemlos mithalten könnte. Die private Konsumverschuldung spricht Bände. Kuscheliger wird die Gesellschaft durch steigende Beschämbarkeit also bestimmt nicht.
Ohnmacht, Rückzug, beschämtes Schweigen – diese Strategien der Generation Laminat als Reaktionen auf die Prekarisierung des Lebens, die steigende soziale Ungleichheit und die bedrohliche Klimaveränderung sind also alles andere als konstruktiv.
Welche könnten es denn sein?
Und jetzt?
»Denken kann man doch nicht delegieren«
Im Oktober 2010 formulierte Harald Welzer in der FAZ zehn sehr beachtete Empfehlungen zur Rettung der Welt. 152 Die erste dieser Empfehlungen lautet schlicht: »Selber denken.« Auch Theresia Volk nennt eine der Therapien gegen die Symptome des Wahnsinns in der Arbeitswelt: »Selber denken.« 153
152 Harald Welzer: Was Sie sofort tun können: Zehn Empfehlungen. In: FAZ, 27.12.2010
153 Theresia Volk: Unternehmen Wahnsinn, S. 161
Ich persönlich habe mit diesem Ratschlag so meine Schwierigkeiten. Nicht, weil er verkehrt wäre. Er ist so wenig verkehrt wie der Ratschlag »Entspann dich«. Es ist immer gut, selber zu denken, und es ist immer gut, entspannt zu sein. Das Problem ist, dass die Aufforderungen zum Selberdenken und Entspannen so wohlfeil sind: Sie sind immer richtig und immer schwierig zu verwirklichen. Warum gibt es massenhaft Entspannungsratgeber, Entspannungkurse, Entspannungsmusiken, -CDs und -Techniken? Genau: Weil es so schwierig ist, sich zu entspannen. Jedenfalls schwierig für die Leute, für die es schwierig ist. Meine Freundin Anna kann immer schlafen. Ich nicht. Weil ich verspannt bin, logisch. Es wäre besser, ich entspannte mich. Geschenkt. Aber wie?
Und warum werden wir so oft aufgefordert, selber zu denken? Weil es so schwierig ist, sich selber denkend seine Schneisen durch den Dschungel von Multikausalität, Dynamik und Komplexität zu schlagen. Weil es so viele Menschen gibt, die Verschiedenes denken. »Der eine begründet mir sein Ja«, sagt Anna, »und ich finde es einleuchtend. Und der Nächste begründet sein Nein, und ich finde es genauso einleuchtend.« Wenn A so plausibel erscheint wie B – wie soll man da selber denkend eine Lösung finden? Wenn in der europäischen Schuldenkrise der eine Experte für Eurobonds stimmt, der nächste gegen die Umwandlung der Währungsunion in eine Transferunion klagt und der dritte für eine Auflösung der Eurozone plädiert, wie soll man da selber denkend herausfinden, welche Lösung richtig ist? Und ob es überhaupt eine richtige Lösung gibt? Oder nicht nur Standpunkte, von denen aus betrachtet die Welt jeweils sehr unterschiedlich aussieht?
Als Mitglied einer toleranten westlichen Zivilisation bin ich damit aufgewachsen, unterschiedliche Werte und Standpunkte zu respektieren. Ich bin damit aufgewachsen, dass Wahrheiten relativ sind, weil Wahrheiten immer vom Betrachter abhängen. Und Betrachter
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