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Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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ziehen, daß
    An dieser Stelle blieb er für lange Zeit hängen. Was zuvörderst in Betracht zu ziehen war, ließ sich in Wirklichkeit kaum sagen. Die einzige Assoziation, die er dem Wort Parlament nach längeren Kämpfen abrang, waren Cromwells Schlachten im alten England – so wäre es wohl jedem russischen Durchschnittsverbraucher gegangen, der in seiner Kindheit Dumas gelesen hatte. Eine halbe Stunde Höchstanspannung aller geistigen Kräfte gebar lediglich einen billigen Hackstück-Slogan:
    Ein paar lamentieren immer.
    Unterdessen war die Schachtel Parliament leer, Tatarski suchte nach Zigaretten. Er stellte die ganze Wohnung auf den Kopf, bis er schließlich eine alte Packung Prima fand. Nach zwei Zügen schmiß er die Zigarette ins Klo und stürzte zum Schreibtisch. Eine Textzeile war geboren, die ihm im ersten Moment wie die Lösung vorkam:
    Parliament – The Unprima
    Aber ein englischer Slogan war nicht gefragt. Tatarski plagte sich lange, bis er auf eine Puschkinzeile kam:
    Was wird der nächste Tag uns bringen?
PARLIAMENT. OBERPRIMA!
    Als er merkte, daß er kaum mehr als eine schwache Paraphrase auf das Wort Uncola zustande gebracht hatte, war er nahe daran aufzugeben. Da plötzlich kam der rettende Einfall. Einst hatte er am Literaturinstitut eine Jahresarbeit in Geschichte geschrieben. Thema: Kurzer Abriß der Geschichte des Parlamentarismus. Was in ihr stand, wußte er nicht mehr, war sich jedoch ziemlich sicher, daß Material für mehr als nur eine Konzeption darin schlummern mochte. Euphorisch tänzelte Tatarski über den Flur zum Einbauschrank, wo der alte Papierkram lagerte.
    Nach einer halben Stunde war klar, daß er die Jahresarbeit nicht finden würde. Fürs erste kratzte ihn das nicht mehr. Beim Durchwühlen der im Wandschrank gestapelten Altlasten waren ihm nämlich ein paar Objekte in die Hände gefallen, die dort seit der Schulzeit auf dem hintersten Bord herumlagen: eine von den Hieben einer Fahrtenaxt verunstaltete Leninbüste (Tatarski erinnerte sich, sie nach der Exekution eigenhändig an diesem stillen Ort verborgen zu haben – aus Angst vor Bestrafung), ein mit Zeichnungen von Panzern und Atompilzen gefülltes Staatsbürgerkunde-Heft und etliche alte Bücher.
    All diese Funde erfüllten ihn mit so abgrundtiefer Nostalgie, daß der Gedanke an seinen Arbeitgeber Pugin nur mehr Haß und Ekel in ihm hervorrief und mitsamt seiner Parliament kurzerhand aus dem Bewußtsein verdrängt wurde.
    Selig entsann sich Tatarski, daß er die gefundenen Bücher damals dem Altpapier entwendet hatte, das zu sammeln sie nach dem Unterricht durch die Straßen gezogen waren. Das Bändchen eines in den sechziger Jahren erschienenen linken französischen Existentialisten war darunter, ein prächtig ausgestatteter Aufsatzband zur theoretischen Physik – Unendlichkeit und Universum – und ein Papp-Schnellhefter. Tiamat stand in großen Buchstaben darauf.
    An Unendlichkeit und Universum konnte Tatarski sich erinnern, an den Hefter nicht. Er klappte ihn auf und las auf der ersten Seite:
    Tiamat 2
Das irdische Meer
Zeittafeln und Kommentare
    Die in den Hefter geklemmten Blätter entstammten sichtlich der Vor-Computer-Ära. Tatarski konnte sich an viele Samisdat-Bücher erinnern, die in dieser Form kursiert waren: je eine maschinengeschriebene Doppelseite auf die Hälfte verkleinert und auf ein Blatt kopiert. Was er in der Hand hielt, nahm sich wie die Anlage einer Dissertation zur Geschichte des Altertums aus. Allmählich dämmerte es Tatarski: Vermutlich hatte er als Schüler nie hineingesehen, da er Tiamat für eine Abart von Diamat oder Histmat – Dialektischer und Historischer Materialismus – hielt. Wohl überhaupt nur des schönen Schnellhefters wegen hatte er dieses Opus an sich genommen und alsbald vergessen.
    Nun zeigte sich, daß Tiamat der Name einer alten Gottheit oder aber eines Meeres oder beides zusammen war. Aus einer Fußnote erfuhr Tatarski, daß sich das Wort ungefähr mit »Chaos« übersetzen ließ.
    Den meisten Raum nahmen in dem Hefter die Königstafeln ein. Sie waren ziemlich langweilig: eine Auflistung unaussprechlicher Namen, römisch beziffert, nebst Auskünften, wer, wo, gegen wen Schlachten geschlagen, eine Mauer errichtet, eine Stadt eingenommen hatte und so weiter. Manchmal wurden verschiedene Quellen zu Rate gezogen und verglichen, und die Schlußfolgerung war, daß gewisse Ereignisse, die als aufeinanderfolgend in die Geschichte eingingen, in Wahrheit miteinander identisch

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