Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
Vom Netzwerk:
Parlamentarismus aus.

Die drei Rätsel der Ischtar
    Am nächsten Tag traf Tatarski – mit den Gedanken noch ganz in die Zigarettenkonzeption vertieft – eingangs der Twerskaja-Straße seinen alten Schulfreund Andrej Girejew, von dem er jahrelang nichts mehr gehört hatte. Girejews Aufzug war eigentümlich: tiefblaue Mönchskutte, bestickte Nepal-Weste. In Händen hielt er etwas wie eine große, mit tibetischen Schriftzeichen bedeckte und mit bunten Bändern behangene Kaffeemühle, deren Kurbel er drehte; jedes einzelne Accessoire wirkte ausgesprochen exotisch, zusammengenommen schienen sie sich jedoch zum Eindruck größter Natürlichkeit zu neutralisieren. Keiner der Passanten schenkte Girejew Beachtung; in Ermangelung eines visuellen Informationsgehalts entging er ihrer Wahrnehmung ebenso wie ein Laternenpfahl oder eine Pepsi-Cola-Reklame.
    Auch Tatarski hatte erst das Gesicht erkennen müssen, ehe ihm Girejews Staffage auffiel. Ein tiefer Blick in die Augen sagte ihm, daß mit Girejew etwas nicht stimmte. Betrunken schien er aber nicht zu sein, wirkte vielmehr gesammelt, still und vertrauenerweckend.
    Er sagte, daß er außerhalb der Stadt wohne, im Dorf Rastorgujewo, und lud ihn ein mitzukommen. Tatarski war einverstanden. Sie tauchten in die Metro ab und stiegen auf dem Bahnhof Warschawskaja in die S-Bahn um. Während der Fahrt sprachen sie kein Wort; nur manchmal wandte Tatarski den Blick von dem, was vor dem Fenster vorüberzog, und sah zu Girejew hinüber. In seiner wunderlichen Kluft wirkte er wie das letzte versprengte Exemplar einer untergegangenen Zivilisation – nicht der sowjetischen (dort waren keine tibetischen Wanderastrologen vorgekommen), nein, einer anderen Welt, die parallel zur sowjetischen existiert hatte, vielleicht sogar als eine Gegenwelt, aber gemeinsam mit ihr untergegangen war. Sie konnte einem leid tun – denn vieles, was Tatarski einmal gefallen, ihn im Innersten berührt hatte, stammte aus dieser parallelen Welt, von der man immer gemeint hatte, sie wäre durch nichts und niemanden zu erschüttern. Und doch war es um sie geschehen: auf ungefähr gleiche, unauffällige Weise, wie es um die sowjetische Ewigkeit geschehen war.
    Girejew wohnte in einem windschiefen schwarzen Haus mit einem verwilderten Garten davor, wo übermannshoch der Bärenklau wucherte. Dem Komfort nach nahm dieser Wohnsitz eine Mittelposition zwischen Dorf und Stadt ein: Beispielsweise konnte man durch das Loch im Toilettenhäuschen nasse, schleimige Kanalisationsrohre erkennen, die über die Jauchegrube hinwegliefen, ohne daß klar war, woher und wohin sie führten. Andererseits gab es im Haus einen Gasherd und ein Telefon.
    Girejew ließ Tatarski am Tisch in der Veranda Platz nehmen und ging daran, ein flockiges Pulver aus einer roten Blechbüchse mit weißer estnischer Aufschrift in die Kanne zu streuen, die normalerweise für den Teesud bestimmt schien.
    »Was ist das?« wollte Tatarski wissen.
    »Fliegenpilze«, gab Girejew zur Antwort und goß kochendes Wasser auf. Im Zimmer begann es nach Pilzsuppe zu riechen.
    »Sag bloß, das willst du trinken?«
    »Keine Bange«, sagte Girejew, »braune sind nicht dabei.«
    Es klang, als wären damit alle nur denkbaren Einwände ausgeräumt, und Tatarski wußte nichts weiter zu sagen. Einen Moment lang zögerte er, dann fiel ihm ein, was er tags zuvor über Fliegenpilze gelesen hatte, und es gelang ihm, seine Zweifel niederzukämpfen. Der Fliegenpilztee erwies sich als recht schmackhaft.
    »Und was hat man davon?«
    »Das wirst du sehen«, antwortete Girejew. »Bestimmt legst du dir noch einen Wintervorrat davon an.«
    »Was machen wir jetzt?«
    »Was du willst.«
    »Reden?«
    »Von mir aus.«
    Die nächste halbe Stunde verging im belanglosen Gespräch über gemeinsame Bekannte. Wie nicht anders zu erwarten, war keinem in der Zwischenzeit etwas Aufregendes passiert. Die Ausnahme war Ljoscha Tschikunow, der, mit mehreren Flaschen finnischem Wodka intus, in einer sternenklaren Januarnacht im Hüttchen auf dem Kinderspielplatz erfroren war.
    »Der ist ins Walhall eingegangen«, war Girejews lakonischer Kommentar.
    »Woher willst du das wissen?« fragte Tatarski, doch da fielen ihm die fliehenden Rentiere und der rote Sonnenball auf dem Flaschenetikett ein, und er gab Girejew im stillen recht. Er holte sein Notizbüchlein hervor und schrieb:
    Werbeanzeige Finlandia-Wodka – basierend auf deren Slogan: In meinem früheren Leben war ich kristallklares Quellwasser.

Weitere Kostenlose Bücher