Generation P
seien – Vorfälle nämlich, die Zeitgenossen und deren Nachfahren so beeindruckten, daß ihr Echo sich verdoppelte und verdreifachte, wonach jedes davon sein eigenes Leben fortlebte. Dem pathetisch-rechtfertigenden Tonfall war anzumerken, daß der Verfasser diese Erkenntnis für revolutionär, geradezu ikonoklastisch hielt, was Tatarski wieder einmal Anlaß gab, über die Eitelkeit allen menschlichen Tuns zu meditieren. Die Tatsache, daß Assuretilsamersituballistu II. in Wirklichkeit Nebukadnezar III. war, vermochte ihn nicht zu erschüttern – und daß der unbekannte Historiker sie mit solchem Pathos verkündete, war einigermaßen komisch. Die Könige waren auch komisch – da man doch nicht einmal sicher sein konnte, ob sie überhaupt Menschen oder nur Fehler beim Abschreiben der Tontäfelchen gewesen waren, diese Täfelchen schienen das einzige, was von ihnen geblieben war. Tatarski hatte jedenfalls nie von ihnen gehört, und das Wort Nebukadnezar klang in seinen Ohren wie das erste defätistische Räuspern am Morgen nach durchzechter Nacht.
Auf die Zeittafeln folgten umfangreichere Anmerkungen zu einem nicht vorhandenen Text (außerdem gab es in der Mappe viele aufgeklebte Photographien irgendwelcher Altertümer). Die zweite oder dritte dieser Anmerkungen, die Tatarski aufschlug, trug den Titel
BABYLON: Die drei chaldäischen Rätsel
Unter dem 0 im Wort BABYLON war noch ein verwischtes E zu erkennen – ein korrigierter Tippfehler, weiter nichts, doch für Tatarski ein Grund zur Aufregung. Sein Name, den er bei der Geburt verliehen bekommen und bei Erreichen der Volljährigkeit wieder abgelegt hatte, holte ihn in diesem Moment wieder ein und mit ihm jene Schicksalsrolle, die die babylonischen Geheimlehren für ihn spielen sollten (so hatte er es den Mitschülern immer weisgemacht) und an die er schon lange nicht mehr gedacht hatte.
Unter dem Titel fand sich das Photo eines Siegelabdrucks: eine vergitterte Tür auf dem Gipfel eines Berges oder einer gezackten Pyramide und daneben ein bärtiger Mann, der einen Rock und um die Schultern eine Art Umhang trug. Tatarski meinte zu erkennen, daß er zwei abgeschlagene Köpfe am dünnen Haupthaar hielt. Der eine hatte kein Gesicht, der andere lächelte freundlich. Dann las Tatarski die Bildunterschrift: Chaldäer mit Maske und Spiegel auf der Zikkurat. Er ließ sich auf dem Stapel der dem Schrank entnommenen Bücher nieder und begann zu lesen, was unter dem Photo geschrieben stand.
S. 123. Spiegel und Maske sind die rituellen Insignien der Ischtar. Als kanonische Darstellung, die die Sakralsymbolik im betr. Kult am umfassendsten ausdrückt, gilt Ischtar hinter goldener Maske, sich im Spiegel betrachtend. Das Gold sei der Leib der Göttin, seine negative Projektion das Sternenlicht. Von daher wird verschiedentlich gemutmaßt, daß als drittes göttliches Insigne der Fliegenpilz zu gelten hat, dessen Hut eine natürliche Sternkarte zeigt. In diesem Fall wäre Amanita mit einem hie und da in Texten auftauchenden Himmelspilz gleichzusetzen. Eine indirekte Bestätigung findet diese Hypothese durch Details in dem Mythos von den drei großen Zeitaltern – dem roten, dem blauen und dem gelben Himmel. Über den roten Fliegenpilz A. muscaria nimmt der Chaldäer Kontakt zur Vergangenheit auf, Weisheit und Kraft des Zeitalters des roten Himmels werden durch ihn erfahrbar. Der braune Fliegenpilz (A. pantherina, Pantherpilz; für »braun« und »gelb« gibt es im Akkadischen nur ein Wort) stellt die Verbindung zur Zukunft her, über ihn wird man all ihrer unerschöpflichen Energie teilhaftig.
Tatarski blätterte aufs Geratewohl einige Seiten weiter; dort war erneut von Fliegenpilzen die Rede.
S. 145. Die drei chaldäischen Rätsel (Die drei Rätsel der Ischtar). Die Legende von den drei chaldäischen Rätseln besagte, daß ein jeder Bewohner Babylons die Göttin habe ehelichen können. Zu diesem Zweck mußte er ein gewisses Getränk zu sich nehmen und ihre Zikkurat aufsuchen. Ob hierbei an eine zeremonielle Besteigung des realen Bauwerks oder aber eine halluzinatorische Reise gedacht war, ist nicht gewiß. Für letztere Vermutung spricht, daß das Getränk nach recht exotischem Rezept zu brauen war: Zutaten waren beispielsweise Urin des roten Esels (der in der alten Alchimie traditionell gebrauchte Zinnober?) sowie Himmelspilze (verm. Fliegenpilze – vgl. Spiegel und Maske).
Der Legende nach führte der Weg zu Reichtum und vollkommener Weisheit (zwischen diesen Begriffen
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