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Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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machten die Babylonier keinen Unterschied, betrachteten sie vielmehr als ineinander übergehende Phänomene, zwei Aspekte ein und desselben) über den Sexualkontakt mit dem goldenen Idol der Ischtar, welches sich im höchstgelegenen Zimmer der Zikkurat befand. Es hieß, der Geist der Ischtar lasse sich zu bestimmten Zeiten in diesem Idol nieder.
    Wer zum Idol vorgelassen zu werden wünschte, hatte die drei Rätsel der Ischtar zu lösen. Der Inhalt der Rätsel ist nicht überliefert. Verwiesen sei auf die strittige Annahme Claude Grecos (vgl. 11, 12), der zufolge es sich bei einer Anzahl rhythmisierter und allein aufgrund ihrer Homonymie polysemer Beschwörungsformeln in altakkadischer Sprache, die bei Ausgrabungen in Ninive gefunden wurden, um besagte Rätsel handelt.
    Weitaus überzeugender erscheint demgegenüber die auf mehreren Quellen fußende Vermutung, daß die drei Rätsel der Ischtar in drei symbolischen Objekten bestanden, welche jedem Babylonier, der ein Chaldäer zu werden wünschte, ausgehändigt wurden. Er hatte die Bedeutung dieser Gegenstände zu ergründen (Motiv der symbolischen Botschaft). Auf dem Treppenwendel zur Zikkurat hinauf gab es drei Absätze, wo dem Kandidaten jeweils eines dieser Objekte präsentiert wurde. Wer auch nur ein Rätsel falsch löste, wurde durch die Wachen von der Zikkurat gestoßen, was den sicheren Tod bedeutete. (Es gibt Grund zu der Annahme, daß der späte, auf ritueller Selbstentmannung gründende Kybele-Kult aus dem Ischtar-Kult abzuleiten ist; hierbei ist die Selbstentmannung wohl als Ersatzopfer anzusehen).
    Nichtsdestoweniger fanden sich Kandidaten in großer Zahl, denn die richtigen Antworten, dank deren man bis auf die Höhe des Zikkurats Vordringen und sich mit der Göttin vereinigen durfte, gab es durchaus. Alle Jahrzehnte einmal glückte es jemandem, sie zu finden. Mit den drei Lösungen gelangte er bis ganz hinauf und begegnete dort der Göttin, womit er zum geheiligten Chaldäer und zu ihrem rituellen Gemahl auf Erden wurde (von denen es möglicherweise mehrere gab).
    Einer Version zufolge existierten des Rätsels Lösungen auch in schriftlicher Form. An besonderen Orten in Babylon wurden versiegelte Täfelchen gehandelt, auf denen die drei Antworten standen (eine andere Version spricht von einem magischen Siegel, in das sie hineingeschnitten waren). Herstellung und Verkauf der Täfelchen oblag den Priestern des Haupttempels Enkidus, des Schutzgottes der Lotterie. Es hieß, Enkidu sei derjenige, durch dessen Vermittlung Ischtar Gelegenheit erhielt, ihren nächsten Gemahl zu wählen. Damit war der Beilegung des bereits im alten Babylon wohlbekannten Konflikts zwischen göttlicher Vorsehung und freiem Willen gedient. Die meisten derer, die sich auf die Zikkurat wagten, hatten also die Tontäfelchen mit den Lösungen dabei; das Siegel brechen durfte man erst beim Aufstieg.
    Diese Praxis hieß auch die Große Lotterie (als Terminus eingeführt durch etliche schöngeistige Autoren, die sich von dieser Legende inspirieren ließen; »Spiel ohne Namen« wäre die genauere Übersetzung). Welches Los nicht gewann, auf dem stand der Tod. Es soll Hasardeure gegeben haben, die sich ohne soufflierende Täfelchen auf die Zikkurat wagten.
    Eine weitere Interpretation geht davon aus, Ischtars Fragen nicht als Rätsel, sondern eher als symbolische Wegmarken zu sehen, die ihrerseits auf bestimmte Lebenssituationen verwiesen. Indem der Kandidat sie absolvierte, hatte er dem Zikkuratwächter einen Beweis seiner Lebenserfahrung zu liefern, was ihn der Begegnung mit der Göttin ein Stück näher brachte. (In diesem Fall wäre der Aufstieg auf die Zikkurat wohl als Metapher zu verstehen.) Schließlich kursierte auch ein Aberglaube, dem zufolge die Antworten auf die drei Fragen der Ischtar im Text sogenannter Marktgesänge verborgen gewesen wären, wie sie tagtäglich auf dem babylonischen Basar erklangen; diese Gesänge und entsprechende Gebräuche sind nicht bezeugt.
    Tatarski wischte den Staub von der Kladde und stellte sie zurück in den Schrank. Er nahm sich vor, sie bald einmal ganz zu lesen.
    Die Jahresarbeit zur Geschichte des russischen Parlamentarismus blieb unauffindbar. Wobei Tatarski gegen Ende der Suche selbst darauf kam: Die Geschichte des Parlamentarismus in Rußland gipfelt in dem einfachen Umstand, daß das Wort Parlamentarismus allenfalls für eine gewisse Zigarettenwerbung zu gebrauchen ist – und selbst da kommt man, nüchtern betrachtet, ohne allen

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