Genesis. Die verlorene Schöpfung (German Edition)
würde, empfand sie Carchuna nur als einen unbedeutenden Punkt ihres Weges. Einen unter vielen, da war sie sich sicher.
Carchuna lag auf einer felsigen Anhöhe und zeichnete sich durch eine besondere Eigenschaft aus. Absolute Sicherheit. Vor Schneckenköpfen zumindest, jedenfalls nicht vor der Hitze. Es gab Konstellationen der beiden Sonnen, die das Thermometer bis weit über 60 Grad Celsius im Schatten treiben konnte. Was nicht nur für amphibische Spezies wie Schneckenköpfe wenig Lebensfreude barg, sondern auch für Menschen. Sogar für den technisch modernen Menschen, zumindest wenn er versuchte, der Natur mit Gewalt zu begegnen. Der Energiebedarf für Klimaanlagen, die mit Wärmetauschern arbeiten würden, wäre auf Dauer nicht zu erwirtschaften gewesen.
Andrej, der Vater von Claires Kindern, hatte keine Freunde. Er hatte noch nicht einmal eine Frau, die ihn liebte. Aber er hatte 800 Menschen, die mit Wonne genau das taten, was er sagte und eine Frau, die für die Gunst, an seiner Seite leben zu dürfen, seine fünf Kinder großzog. Es war seine Idee gewesen, genau über den eigentlich instabilen Öffnungen der Höhlen riesige sich selbst tragende Kuppeln aus Sandsteinquadern zu errichten. Das ist total verrückt, hatten viele damals gesagt, das wird einstürzen und alle in der Tiefe begraben, Kira kannte noch jede der Anfeindungen, denen er sich damals stellen musste. Sie wusste sogar noch genau, wer ihm welche abfällige Bemerkung an den Kopf geworfen hatte. Nichts, was sich jemals in ihrer Gegenwart abgespielt hatte, vergaß sie wieder. Wobei es die meisten Ereignisse nicht gerade wert waren, sich an sie erinnern zu können.
Einige Zeit später bauten alle Menschen auf Proxima genau diesen Typ Häuser mit natürlichen Klimaanlagen nach. Die dicken Sandsteinmauern schützen den Wüstengrund vor der Sonneneinstrahlung, weswegen das obere Gestein der Höhlen, thermisch geringer belastet, seine Instabilität ablegte. Weiterhin ließ Andrej die Verbindungen der unterirdischen Höhlen derart verschließen oder öffnen, dass sich eine steuerbare Luftzirkulation ergab. In den Wohnbereichen in Carchuna lag daher die Temperatur bei angenehmen 24 Grad Celsius. Und das auch in langen Nächten, die zwar seltener vorkamen, aber das Thermometer dafür bis unter Minus 20 Grad Celsius fallen lassen konnten.
***
XXII. Frondienste
»Hallo Kira«, begrüßte Rico sie freundlich. Er liebte sie, immer schon. Nein, eigentlich erst seit sieben Jahren, acht Monaten, dreiundzwanzig Tagen und inzwischen etwas über vier Stunden. Die Minuten zu zählen wäre kleinlich gewesen. Sie konnte sich noch an den Moment erinnern, als sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. Obwohl sie Kinder waren, hatte er sie damals sofort mit seinen Augen verzehrt. Er war ein Jahr jünger als sie, dafür aber mittlerweile einen Kopf größer, athletisch und über dreißig Kilo schwerer.
»Lässt du mich bitte rein?«, fragte Kira und blickte nach oben. Zu ihm aufzusehen, passte ihr nicht. Die Servomotoren der beiden autonomen G2-Verteidigungsgeschütze, die sie aus zwei kleinen Öffnungen in der Mauer anvisierten, surrten leise. Mit den beiden Laserpunkten auf der Brust fühlte sich Kira nicht gerade sicherer. Rico schaute von einem aus Sandsteinquadern gemauerten Wachturm hinab. Gut fünf Meter maß die Mauer, die Carchuna umgab. Zum Schutz vor den Schneckenköpfen, die noch nie in der Wüste gesehen worden waren. Aber die Furcht saß tief, bei jedem, auch denen, deren Gedächtnis schlechter war als Kiras. Keiner hätte je auf die Mauer verzichten wollen. Niemals.
»Die Losung?«, fragte Rico pflichtbewusst. Als Wache musste er nach der Losung fragen. Was Kira trotzdem für dämlich hielt, als ob Schneckenköpfe eine Losung nachplappern könnten. Aber das waren Andrejs Regeln, sinnlose Regeln, an die sich trotzdem alle hielten.
»Mach bitte das Tor auf.«
»Das ist nicht richtig!«, antwortete Rico.
»Bitte ... denk dir den Rest.«
»Die Losung?«
»Ich bin müde. Lass mich rein.« Kira schüttelte den Kopf. Er war eigentlich ein netter Kerl und hätte sich vermutlich als Einziger in Carchuna freiwillig, nur mit einem Knüppel in der Hand, einer Rotte hungriger Schneckenköpfe entgegen gestellt.
»Kira ... die Losung ist Wildvogel! Du darfst das niemals vergessen. Was wäre, wenn jemand anderes Dienst hätte?«, ermahnte er sie wie ein großer Bruder, öffnete aber das schwere Metalltor, das beidseitig in der zwei Meter starken Mauer
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