Genesis. Die verlorene Schöpfung (German Edition)
Die Erinnerungen an Düsseldorf und an den nackten jungen Mann waren von ihr, von Anna. Nur, das machte überhaupt keinen Sinn. Es gab keine Verbindung. Kira hatte das niemals erlebt - das war nicht sie - das war jemand anderes.
»Du solltest langsam akzeptieren, wer du bist. Ist leichter. Glaub mir, ich kenn mich aus«, sagte der junge Mann, der seine üblichen Auftritte in ihren Tagträumen nun in die Nacht verlegt hatte. Wobei er nicht weniger deplatziert wirkte.
Kira drehte sich auf die andere Seite und zog sich das Kissen über den Kopf. Neben ihr lagen Claire und ihre fünf Kinder. Alle schliefen. Zum Glück. Felix hatte sein Bein besitzergreifend auf den Bauch seiner Mutter gelegt, hoffentlich würde er nicht so werden wie sein Vater.
»Wegdrehen macht es nicht besser ... ehrlich.« Der junge Mann neben ihr ließ nicht locker.
»Hau ab. Du bist nur ein Traum!« Kira weigerte sich auch, ihn zu akzeptieren.
»Und?« Was ihn augenscheinlich nicht störte.
»Warum trägst du keine Kleidung?«, fragte Kira leise. Eine dämliche Frage, aber sie fühlte sich durch seine Nacktheit bedrängt. Sie hatte kein Verlangen, nackte Männer zu sehen.
»Ich glaube, du magst mich nackt, also so, wie du mich siehst. Ist schließlich deine Fantasie. In meiner wärst du auch nackt, was mich allerdings weniger stören würde.« Dieser unverschämte Kerl legte seine Hand an ihren Rücken. Kira schreckte auf, doch da war niemand.
»Wie ist dein Name?« Diese Frage hatte Kira noch nie gestellt, Zeit, das zu ändern, allerdings antwortete niemand.
Kira wachte auf, es war nur ein Traum gewesen und ein ziemlich merkwürdiger dazu. Im Wohnbereich unter der Kuppel war es auch zur Schlafenszeit niemals ruhig. Draußen knallte die Sonne auf den staubigen Boden und drinnen schliefen viele, andere schnarchten, manche redeten und einige liebten sich auch. Leise, wie alles, was man in Carchuna tat.
Kira griff sich an den Oberarm, ihre Muskeln schmerzten. Auch in ihren Beinen und am Rücken zog es, als ob sie zu viel gearbeitet hätte. Was sie allerdings nicht getan hatte. Jetzt kamen auch noch Kopfschmerzen dazu. Das hatte ihr noch gefehlt, seit dem Gespräch mit Sequoyah hatte sie starke Gliederschmerzen bekommen.
Du solltest zur Ruhe kommen, hatte Claire immer gesagt, nur das war leichter gesagt als getan. Kira schloss die Augen und die Bilderflut in ihrem Kopf nahm ihren Lauf: Gedanken, Fragen, Erinnerungen, Wünsche und Ängste - das Chaos drehte sich um sie herum - allerdings stetig langsamer werdend, alles wurde klarer, greifbarer und kontrollierbarer. Eine angenehme Erfahrung: Sie sah Dinge, die sie nie zuvor gesehen hatte, hörte Stimmen, die sie nicht kannte, und spürte Wünsche, die ihr noch völlig fremd waren. Wurde sie gerade verrückt? Nein, sie lernte von Anna. Schneller als je zuvor verstand sie, was ihr, was allen Menschen auf Proxima widerfahren war. Musste sie sich davor fürchten? Nein. Sollten sich andere vor ihr fürchten? Einige schon.
Alles war auf einmal ganz genau zu erkennen, die menschliche Kultur auf Proxima trat auf der Stelle: Die Natur, die Schneckenköpfe, die technischen Unzulänglichkeiten kosteten mehr Menschen das Leben, als neu geboren wurden. Es lebten nur noch wenige, zu wenige, sie waren im Begriff auszusterben. Sequoyah hatte nicht die Wahrheit gesagt, die Aktivierung des Warp-Markers lag noch nicht in Reichweite ihrer Möglichkeiten. Die Liste der Probleme war zu lang: Energieprobleme, Technikprobleme, Fachkräftemangel und die stetig wachsende Resignation - und jetzt die Replikanten, künstlich geschaffene Menschen mit überragenden Fähigkeiten. Würden sie die Wende bringen oder gemeinsam mit der Bedrohung durch eine künstliche Intelligenz ihr aller Ende bedeuten? Und der Warp-Marker, würde der wirklich ihre Rettung bedeuten oder würden sie durch ihn das Unheil zur Erde zurücktragen?
Viele Fragen und keine Antworten. War Kira jemand, der helfen konnte? Helfen, zu überleben? Helfen, den Weg zurück zu finden? Oder helfen, alle zu töten? Wer war sie? Was war ihre Aufgabe? Und warum konnte sie, was sie konnte? Die Überlegungen führten nur zu einer Konsequenz, sie musste besser verstehen, wer sie war und dazu würde sie nicht länger bleiben können. Sie würde Carchuna verlassen! Nur wie, das wusste sie noch nicht.
Kira legte ein Wickeltuch an und verließ Claire und die Kinder. Sie brauchte eine Erfrischung. Direkt neben den Schlafzonen gab es zwei Hygienebereiche. Sie blieb
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