Genesis Secret
hatte. Sein Brustkorb war von tiefen Messerschnitten zerfurcht. Sie bildeten ein Zeichen in seiner weißen, faltigen alten Haut.
Und warum stöhnte der Mann so seltsam? So unverständlich? Da war es wieder, dieses Geräusch. Alan bekam weiche Knie.
Der Mund des Mannes troff vor Blut. Es quoll aus seinem Mund, als hätte er ihn sich mit Erdbeeren vollgestopft. Glänzend rot lief es über seine alten Lippen und tropfte auf den Boden. Wenn er stöhnte, blubberte und gurgelte mehr Blut aus seinem Mund.
Und dann der endgültige Horror.
Der Mann hielt etwas in der Hand. Er öffnete sie langsam und streckte sie wortlos aus. Als wollte er Alan etwas geben. Ein Geschenk.
Alan blickte auf die Hand hinunter.
Sie hielt, kraftlos, eine abgeschnittene Zunge.
2
Auf dem Carmel-Markt herrschte viel Betrieb. Jemenitische Gewürzhändler stritten mit kanadischen Zionisten, israelische Hausfrauen begutachteten Lammrippchen, und syrische Juden bauten Gestelle mit CDs libanesischer Schnulzensänger auf. Der Menschenstrom wälzte sich an Tischen mit scharfen roten Gewürzen entlang, vorbei an hoch aufgestapelten Kanistern mit grünem Olivenöl und an einem großen Stand, wo man hervorragenden Wein von den Golan-Höhen kaufen konnte.
Und mittendrin bahnte sich Rob Luttrell einen Weg zum hinteren Teil des Markts. Er hatte Lust auf ein Bier am Bik-Bik-Bier-und-Wurst-Stand, seinem Lieblingsplatz in Tel Aviv. Rob vertrieb sich gern die Zeit damit, die sich hinter ihren Sonnenbrillen versteckenden israelischen Promis zu beobachten. Vor ein paar Tagen hatte ihn ein ausnehmend hübsches Starlet sogar angelächelt. Vielleicht hatte sie geahnt, dass er Journalist war.
Rob hatte eine Schwäche für das tschechische Bier am Bik-Bik-Wurststand; man bekam es in einem Plastikkrug und mit ein paar Appetithäppchen - Stückchen hausgemachter Salami und winzige Pitas mit scharf gewürztem Kebab.
»Schalom«, begrüßte ihn Samson, der türkische Besitzer des Bik Bik. Rob bestellte schroff ein Bier. Dann besann er sich auf seine Manieren und sagte bitte und danke. Er fragte sich, ob ihm die Langeweile bereits zusetzte. Inzwischen war er schon sechs Wochen wieder hier, und nach den sechs ereignisreichen Monaten im Irak tat er nichts anderes, als Däumchen zu drehen. War das schon zu lange?
Nein, er hatte die Pause gebraucht. Und er war gern in Tel Aviver mochte die Lebendigkeit und die Dramatik der Stadt. Es war sehr großzügig gewesen von seinem Redakteur in London, ihm so lange freizugeben, um sich zu »regenerieren«. Aber inzwischen war ihm wieder nach etwas Action. Ein weiterer Einsatz in Bagdad vielleicht. Oder in Gaza - dort heizte sich die Lage gerade wieder auf. In Gaza heizte sich immer irgendetwas auf.
Rob nahm einen Schluck Bier aus dem Plastikkrug und wandte sich um, damit er über die Promenade auf das graublaue Mittelmeer hinausblicken konnte. Das Bier war kalt, golden und süffig. Er beobachtete einen Surfer, der durch die Wellen aufs Meer hinausglitt.
Wann würde sein Redakteur endlich anrufen? Rob checkte sein Handy. Vom Display blickte ihm das digitale Bild seiner kleinen blonden Tochter entgegen. Rob bekam heftige Gewissensbisse. Er hatte seine Tochter schon seit wann nicht mehr gesehen? - Januar oder Februar? Als er das letzte Mal in London gewesen war. Aber was blieb ihm schon anderes übrig? Seine Exfrau stieß ständig ihre Pläne um, als ob sie Rob jeden Zugang zu seiner Tochter verwehren wollte. Robs Bedürfnis, Lizzie zu sehen, war so elementar wie Hunger oder Durst. Da war das ständige Gefühl, dass etwas - jemand - in seinem Leben fehlte. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er sich zur Seite drehte, um seine Tochter anzulächeln, aber natürlich war sie nicht da.
Rob brachte seinen leeren Bierkrug an die Bar zurück. »Bis morgen, Sam. Und lass noch ein paar Kebabs übrig!«
Samson lachte. Rob zahlte seine Schekel, dann machte er sich auf den Weg zum Strand. Er lief über mehrere Fahrspuren dichten Stadtverkehrs, ständig hoffend, nicht von den aggressiven israelischen Autofahrern überfahren zu werden, die sich gegenseitig ins Meer zu drängen versuchten.
Der Strand von Tel Aviv war sein bevorzugter Platz, wenn er in Ruhe nachdenken wollte. Mit den Wolkenkratzern hinter sich und den Wellen und dem belebenden, warmen Wind vor sich. Und jetzt wollte er über seine Frau und sein Kind nachdenken. Über seine Exfrau und seine fünfjährige Tochter.
Nachdem er von der Zeitung aus Bagdad zurückbeordert worden
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