Genial gescheitert - Schicksale großer Entdecker und Erfinder
war.
Den Dachboden des Hauses bauten die beiden Brüder zu einer Werkstatt um, in der sie dem Geheimnis des Vogelfluges auf den Grund gehen wollten: »Jetzt werden wir es machen«, 3 hatte Otto seinem Bruder gleich nach der Rückkehr aus Frankreich zugerufen. Sie begannen damit, Modelle zu bauen, wobei sie noch offene physikalische Fragen klären wollten: Wo muss sich der Schwerpunkt befinden? Welche Form und relativen Maße müssen die Flügel haben? Und vor allem, wie bekam man nicht nur den Auftrieb, sondern auch einen Vortrieb hin?
Rasch wurde ihnen bewusst, dass menschliche Muskelkraft nicht ausreichen würde, um wie ein Vogel fliegen zu können. Eine Maschine musste her. Wochen und Monate verbrachte Otto damit, eine kompakte Dampfmaschine zu bauen. Das Resultatwar ein Meisterwerk der Feinmechanik. Als Brennstoff wählte er Alkohol, der über eine kleine Pumpe in den Brenner gelangte und einen Motor mit einer Leistung von einem Viertel PS antrieb. Flügelmodell und Motor wogen vier Kilogramm – nicht mehr als ein Storch.
Doch das Experiment misslang. Das Gerät hob nicht ab, eher zerbrachen die Flügel. Doch ein Positives hatte diese Entwicklung trotzdem. Otto ließ sich den Motor patentieren und gründete zu Beginn der 1880er Jahre eine Fabrik für »gefahrlose Dampfkessel aus Schlangenrohr-Elementen«, wobei sich Letzteres auf schlangenartig verlegte Rohre bezog.
Trotz ihres Fehlschlags setzten Otto und Gustav ihre Fluguntersuchungen fort. Dafür bauten sie eine Art Karussell mit bis zu sieben Metern Durchmesser, an dem sie ihre Flugmodelle aufhängten und im Kreis herumfliegen ließen. Ab 1873 konnten sie diese Rotationsmaschine auch in der wesentlich geräumigeren Turnhalle einer Berliner Schule aufstellen. Mit einer geschickten Konstruktion aus Gegengewichten und Federwaagen untersuchten sie Windwiderstand und Auftrieb der Flügel. Während die Brüder die Versuche ausführten, notierte ihre Schwester Marie die Messwerte. Hierbei stießen sie rasch auf eine fehlerhafte Lehrbuchmeinung, wonach eine ebene Fläche den geringsten Widerstand besitzt. Die Flügel mussten leicht nach oben gebogen sein.
Die Experimente mit der Rotationsmaschine brachten viele neue Erkenntnisse. Otto war aber auch klar, dass sie nur bedingt aussagekräftig waren. So erzeugte ein Flügel um sich herum Luftwirbel, die er bei jedem Umlauf durchquerte. Otto wollte seine Tragflächen aber auch unter realistischeren Bedingungen im freien Wind untersuchen und unternahm deshalb ähnliche Versuche in einer weiten baumlosen Ebene zwischen Charlottenburg und Spandau. Die Ergebnisse stimmten ihn hoffnungsvoll, dass »der Segelflug nicht bloß für Vögel da ist, sondern auch der Mensch auf künstliche Weise diese Art des Fluges … hervorrufen kann«. 4 Aber »es muss irgendwonoch ein Geheimnis verborgen sein, was das Fliegerätsel mit einem Schlage löst«. 5
Ein wesentliches Ergebnis dieser Versuche war ein bis dahin unbekannter Zusammenhang zwischen Auftrieb und Luftwiderstand, den der russische Luftfahrtpionier Nikolai Schukowski später als Lilienthal-Polare bezeichnete. Sie ermöglicht es noch heute, die Tragflügelprofile von Segelflugzeugen zu analysieren. Otto verglich die Wölbung von Tragflächen einmal sehr anschaulich mit Bettlaken auf der Leine, die der Wind bläht.
Damit hatten die Gebrüder Lilienthal die bis dahin umfangreichsten Untersuchungen von Tragflächen angestellt und ungewollt die Wissenschaft der Aerodynamik begründet. Was sie nicht wussten, war, dass die damalige physikalische Autorität schlechthin, Hermann von Helmholtz von der Berliner Universität, aufgrund von theoretischen Überlegungen 1873 zu dem Ergebnis gelangt war, dass ein Mensch mit einem flügelähnlichen Mechanismus, den er durch seine Muskelkraft bewegt, nicht vom Boden abheben kann. Genau genommen behielt von Helmholtz damit recht. Allerdings bedeutete dies nicht den Todesstoß für andere Formen des Fliegens und Segelns, wie wir heute wissen.
Die ausgedehnte Versuchsserie, bei der die Brüder am Schluss auch Drachen testeten, ging bis Ende 1874, danach setzte eine lange Pause ein. Erst 1888 nahmen sie ihre Studien wieder auf. Grund für die lange Unterbrechung der Experimentierphase waren gravierende Veränderungen im Leben der Lilienthals. Otto hatte mittlerweile den Arbeitgeber gewechselt und war nun bei der Firma des Maschineningenieurs Carl Hoppe angestellt. Der schickte Otto in das südwestlich von Dresden gelegene Döhlener Becken,
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