Genial gescheitert - Schicksale großer Entdecker und Erfinder
Dabei wuchs die Zahl seiner Arbeiter und Angestellten immer weiter an, was ihn dazu bewegte, sich mit sozialreformerischen Gedanken auseinanderzusetzen. Im Frühjahr 1890 führte er schließlich als einer der ersten Unternehmer in Deutschland für seine sechzig Arbeiter eine Gewinnbeteiligung von 25 Prozent ein. Ein revolutionärer Entschluss.
Doch wer meint, der aufstrebende Unternehmer Otto Lilienthal würde sich auf dem Erreichten ausruhen, der irrt. Durch einen Freund namens Max Samst, der Direktor des Ostend-Theaters war, kam Otto zur Bühnenkunst. Erst wurde er Teilhaber, dann verguckte er sich in eine hübsche Schauspielerin mit eher schlichter Begabung. Sozial engagiert, wie Otto nun einmal war, wollte er auch dem einfachen Volk den Weg ins Theater öffnen und führte ab Ende 1892 Klassiker auf. Der Eintritt kostete einen Groschen, nur für die besseren Plätze zahlte man zwanzig und dreißig Pfennige. Schließlich betrat Otto selbst die Bretter, die die Welt bedeuten, allerdings mit mäßigem Erfolg. Das hinderte ihn jedoch nicht – inspiriert von Gerhard Hauptmanns ›Die Weber‹ –, selbst ein Stück zu verfassen. Es trug den Titel ›Moderne Raubritter‹. Erfolg war ihm nicht beschieden.
Otto Lilienthals Leben war reich an unterschiedlichen Aktivitäten, doch eine zog sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Leben: die Begeisterung fürs Fliegen. Nach einer fast 14 Jahre dauernden Unterbrechung nahm er im Sommer 1888 zusammen mit Gustav im Garten seines Hauses die Flugversuche wieder auf. Neben einem Rotationsstand, mit dem sich die Eigenschaften unterschiedlicher Flügelprofile messen ließen, hielt sich Otto anfangs auch drei zahme Jungstörche, deren erste Flugversuche er eingehend studierte. Doch als im Sommer alle anderen Störche gen Süden zogen, hielt es auchdie Jungstörche nicht mehr in Ottos Garten, und sie schlossen sich ihren Artgenossen an.
Mit dem Rotationsstand maßen Otto und Gustav die Eigenschaften von Tragflächen mit unterschiedlichen Profilen. Erneut untersuchten sie den Widerstand in Bewegungsrichtung und den Auftrieb. Dabei wiederholten sie auch Experimente aus den 1870er Jahren. Kontrollversuche auf freiem Feld zwischen Teltow, Zehlendorf und Lichterfelde gehörten ebenfalls zum Forschungsprogramm.
Die Ergebnisse der unzähligen Versuche fasste Otto in seinem legendären Buch ›Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst‹ zusammen. Doch die Welt war noch nicht reif für das Fliegen. Männer, die sich diesem Traum verschrieben hatten, waren sehr selten und galten bei ihren Mitbürgern schlicht als Verrückte. Deswegen fand sich auch kein Verlag, der das Buch herausgeben wollte, so dass Otto es auf eigene Kosten drucken ließ. Der Erfolg war dementsprechend: Bis 1896 waren erst 300 Exemplare davon in Deutschland verkauft.
›Der Vogelflug‹ enthält eine Fülle von experimentellen und theoretischen Ergebnissen. Otto fragte sich, welche Kräfte in welcher Richtung an einem von Luft angeströmten Flügel angreifen. Optimale Bedingungen für das Fliegen liegen genau dann vor, wenn der Widerstand in Vorwärtsrichtung möglichst gering und der Widerstand nach unten möglichst groß ist. Dann kann sich ein Vogel – oder ein Mensch – mit geringstem Kraftaufwand nach vorne und nach oben bewegen.
Für seine theoretischen Analysen beschränkte sich Otto auf die Newton’sche Mechanik. Was damals noch völlig fehlte, war eine Strömungsforschung, die eine ganz bestimmte Eigenart umströmter Flächen miteinbezog, nämlich den aerodynamischen Auftrieb. Im Grunde lag die hierfür nötige Physik damals schon seit rund hundert Jahren vor, denn der schweizerische Mathematiker Jakob Bernoulli hatte längst herausgefunden, dass der Druck eines strömenden Gases abnimmt, wenn das Gas sich schneller bewegt. Heutige Tragflächen sindnach diesem Prinzip konstruiert: Ihr Profil bewirkt, dass die anströmende Luft oberhalb des Flügels schneller strömt als unterhalb. Dadurch verringert sich über der Tragfläche der Luftdruck, und es entsteht ein Sog nach oben. Diese Kraft wächst mit der Geschwindigkeit. Überschreitet sie das Gewicht des Flugzeugs, so hebt es ab.
Dieses Bernoulli-Gesetz kannte Otto Lilienthal nicht. Er erklärte sich den Auftrieb nach oben gewölbter Flügel auf andere Weise. Die unterhalb des Flügels vorbeiströmende Luft schmiegt sich an den Flügel an, beschreibt dadurch in der Wölbung einen Bogen und erzeugt eine Zentrifugalkraft, die von unten gegen den Flügel
Weitere Kostenlose Bücher