Genom
war gerade damit beschäftigt, das Fach wieder zu öffnen, und warf ihm nur einen kurzen Blick zu. »Warum können Sie mich nicht einfach ›Doc‹ nennen?« Da sie ihn so früh in ihrer jungen Geschäftsbeziehung noch nicht irritieren wollte, fügte sie hinzu: »Bis wir uns besser kennen.«
Er war enttäuscht, nahm das Angebot aber an. »Okay –Doc. Das einzige Problem ist, dass ich dabei an einen alten Kerl mit einem langen Bart in einem weißen Kittel denken muss. Sie tragen zwar so einen Kittel, aber Sie sehen nicht wie ein alter Mann mit einem langen Bart aus.«
»Ich merke schon, dass Ihnen Schmeicheleien wirklich im Blut liegen«, erwiderte sie abwesend. » So. « Die Schutzscheibe glitt wieder nach oben und gab den silbrigen Faden frei. Sie holte ihn vorsichtig aus der Flexverbindung und legte ihn wieder in die schützende Kapsel. Eine kurze Überprüfung mit einem anderen Instrument verriet ihnen, dass das Gerät seine minimale Sendeleistung noch nicht wieder eingestellt hatte. Aus welchem Grund und zu welchem Zweck, das blieb ebenso ein Rätsel wie seine Zusammensetzung und sein Inhalt.
Aufgrund des schwachen Signals war das Gerät vielleicht ein eingeschränktes Zielsuchsignal, überlegte sie. In diesem Fall war es möglich, dass sie von den Besitzern persönlich mehr über die Art des Inhalts erfahren würde. Sollte es zu einer solchen Begegnung kommen, dann wäre es sehr beruhigend, jemanden mit Mr Whisprs besonderen Talenten an seiner Seite zu haben.
Als er nach der Kapsel greifen wollte, ließ sie diese instinktiv vorne in ihren Kittel fallen. Im gleichen Moment wurde ihr klar, dass das nicht die vernünftigste Reaktion auf sein Zugreifen gewesen war. Jemand wie Rajeev hätte daraufhin innegehalten, doch für ihren Besucher musste das nicht unbedingt ein Hindernis darstellen. Einen Augenblick lang stockte ihr der Atem, doch dann lächelte er und zuckte mit den Achseln.
»Wenn Sie es als Sicherheit an sich nehmen wollen, dann habe ich kein Problem damit.« Seine Stimme klang ganz und gar nicht besorgt. »Da wir uns jetzt geeinigt haben, weiß ich,dass Sie mir nicht weglaufen werden.« Dieses Mal war sein Lächeln aufrichtig. »Ich weiß, wo Sie wohnen. Oder zumindest werde ich es wissen, wenn wir dort angekommen sind.« Er blickte zur Tür. »Wie weit ist es zu Ihrer Wohnung?«
»Es ist nicht weit«, erklärte sie ihm. »Wir müssen nur nach oben.«
***
Whispr staunte zwar nicht über ihre Wohnung, aber er war sehr beeindruckt. Gemeinsam mit Jiminy und anderen hatte er schon schickere Wohnungen ausgeraubt, aber die Sauberkeit in ihrem Apartment war bewundernswert. Hier war es so sauber und ordentlich, wie es in seinen zahlreichen Unterkünften schäbig und chaotisch gewesen war.
Genauso wie sein Leben.
Sie zeigte ihm das zweite Badezimmer, das geräumig und überaus luxuriös war im Vergleich zu den Orten, an denen er seine hygienischen Bedürfnisse zuletzt verrichtet hatte. In dem kompakten Essbereich gab es einen sich selbst reinigenden Kocher und Teller aus einem Material, das weitaus fester war als Zellulosederivate. Er konnte essen, was und wann er wollte, teilte ihm Ingrid mit.
Wenn sie gewusst hätte, wie wenig Zeit er in den vorangegangenen Tagen damit verbracht hatte, eine Essenspause einzulegen, dann wäre sie nicht überrascht gewesen, wie gierig er eine unmögliche Menge an Essen herunterschlang.
Danach lag er wie erschlagen auf der großen U-förmigen Couch im Wohnbereich und entschuldigte sich. »Normalerweise schlinge ich mein Essen nicht so herunter.«
»Nur wenn Sie vor den Behörden auf der Flucht sind?«, fragte sie frech.
»Nein«, entgegnete er ohne spürbare Verbitterung. »Es kommt vor, dass ich nicht genug Geld habe, um mir was zu essen zu kaufen. Wenn es geht, neige ich dazu, alles zu essen, was mir in die Hände fällt.«
Sie musterte ihn langsam von oben bis unten. »Zumindest müssen Sie nie überlegen, ob Sie eine Diät machen sollten.«
»Das würde ich auch gar nicht wollen.« Er tätschelte seinen nicht existierenden Bauch. »Angeborene genetische Veranlagung ebenso wie körperliche Manipulation. Dafür habe ich mich entschieden. So wollte ich aussehen.«
»Darf ich fragen, warum?«
Seine Antwort war unerwartet abweisend. »Nein, dürfen Sie nicht.«
Das war das einzige Mal, dass sie ihm wegen des auserwählten Melds eine Frage stellte.
Während sie am nächsten Tag im globalen Netz abtauchte und versuchte, so viel wie möglich über herauszufinden,
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