Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
Vom Netzwerk:
steht zwischen Himmel und Erde, trägt eine weiße Robe mit Flügeln aus Flammen und einen goldenen Heiligenschein um das Haupt… Ein Fuß bedeckt das Land, der andere das Meer, die Sonne geht hinter ihm auf, und auf seiner Stirn blendet das Zeichen für Ewigkeit und Leben: der Kreis.«
     
    Omai O'Hara erkannte seine Anwesenheit, betete und bat ihn um zwei Tage Zeit. Nur zwei Tage, um alles zu vollenden. Alles.
    Dieser Wunsch, wie wir vernehmen müssen, wurde erfüllt. Allerdings nicht im Sinne Omai O'Haras, dem die Astrologen wie üblich ein langes Leben vorausgesagt hatten.
     
    Drei Stunden später, der Morgen dämmerte, begann er sein Werk.
    Laura erwachte nicht aus ihrer Hypnose. Afrika, damit begann er nach langer Reflexion, im Herzen Afrikas, das die Europäer Kongo genannt hatten, wo die finsteren Missionare die hellen Seelen der sogenannten Eingeborenen verdunkelt hatten.
    Mut überall, Brutalität. Er sah alles vor sich, wie Ausschnitte aus einem Film vor der Erfindung der Kinematographie. Gewalt.
    Nach einer Weile bepinselte er sämtliche Kontinente mit roter Wasserfarbe, Blut, ließ einzelne Stellen wieder weiß werden auf der wunderbaren Mädchenhaut, tupfte grüne Flecken von Wasserfarbe auf, entfernte sie sorgsam wieder, trug Gelb auf im Norden, Wüsteneien, das Grau des Hungers und des Hoggar-Massivs.
    Omai O'Hara fiel in Trance, aufrecht kniend, leer wie das Universum im fetten Bauche Buddhas, in dem ein Lichtstrahl acht Milliarden Lichtjahre – von Bauchwand zu Bauchwand – durchwandert: Buddha, der Hochstapler des Nichts.
    Endlich begannen sich Finger und Hände O'Haras wieder in Bewegung zu setzen, wie im Puppentheater gelenkt.
    In zwei Stunden schuf er Afrika, das vergangene, das neue und das künftige Afrika, das nun hübsch und attraktiv aussah, wenn man es nur wenige Minuten betrachtete.
    Und so hatte es O'Hara auch beabsichtigt: hübsch und attraktiv, wenn man es nur oberflächlich betrachtete.
    Für den, der es länger betrachtete, würde es die schreckliche Ausstrahlung eines Medusenhauptes haben.

NEUNZEHN
    Als Laura erwachte, die Körpermitte wie die eines Säuglings verpackt und zugeschnürt, saß Lucia neben ihr und streichelte sanft ihren Nacken.
    Laura öffnete langsam die Augen, betrachtete die Räumlichkeit wie eine unbekannte Gegend und hob den Kopf zu Lucia.
    »Du? Gut, daß du da bist. Ich war die ganze Nacht in Afrika. Nie, nie, nie mehr möchte ich nach Afrika«, lallte sie.
    Lucia hatte ihr das Frühstück mitgebracht, Früchte, Brötchen und Butter, Capuccino und Süßigkeiten, und begann sie liebevoll zu füttern.
    Lauras Augenlider waren wie von Bienenstichen angeschwollen. Sie suchte nach Erinnerungsfetzen.
    »Signore Robusti ist nach Mailand gefahren«, schwatzte Lucia. »Er sah aus, als dürfte er einer Hinrichtung beiwohnen, einer privaten natürlich. Er komme erst zurück, wenn der Meister das Werk beendet habe.«
    »Und er?« fragte Laura.
    »Omai schläft«, antwortete Lucia und verbesserte sich sogleich: »Mister O'Hara schläft. Und nun soll ich dich auspacken, abkühlen und all das, ja?«
    Laura nickte, schob sich kleine Bissen in den Mund und ließ sich verarzten.
    Als Lucia die Tätowierung der linken Hinterbacke erblickte, stockte ihr der Atem vor Bewunderung und Neid. Dann faßte sie sich: Der Meister hatte ihr befohlen, Lauras Haut nicht länger als nötig freizulegen, alles abzukühlen und sofort wieder mit frischen Tüchelchen zu bedecken. Und so geschah es auch.
     
    Omai O'Hara erschien erst am späten Nachmittag. Er grüßte Laura kurz, winkte jedoch mit einer energischen Handbewegung ab, als sie zu reden begann.
    Er befahl Lucia, Tücher zu holen, möglichst dunkle Tücher, um die Fenster zu verdunkeln. Kein Lichtstrahl, kein Lichtschimmer sollte eindringen. Lucia fand sogar schwarze Leintücher, sargschwarze; O'Hara verdeckte die drei hohen Fenster und schickte Lucia hinaus.
    »Klopf in drei Stunden an die Tür«, sagte O'Hara mit seltsam leiser Stimme, »aber leise, ja leise. Und schließe die Tür sorgfältig hinter dir ab. Ich danke dir.«
    Sie verließ das Zimmer.
    O'Hara entfernte die Tücher von Lauras Rückenende, betrachtete und betastete die Tätowierung. Ohne daß er sie dazu aufforderte, begab sich Laura in Kniestellung. Sie vernahm die Geräusche, die so sanften, knisternden, wenn jemand sich auszieht.
    Dann erblickte sie die nackte Gestalt eines Mannes, mondlichtglänzend, phosphoreszierend, winzige Lichtstrahlen auf den Fingerspitzen,

Weitere Kostenlose Bücher