Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
Vom Netzwerk:
musiziert, spiegelt das Weltall, die Galaxien, die lebenden und vergangenen Götter, alles!«
    Und in diesem Augenblick verwandelte er sich in eine silberne Säule und kippte metallklirrend zu Boden.
    Robusti war nicht in der Lage, ihm zu helfen. Er weinte. Wartete.
    Nach einer Minute kehrte wieder Leben in O'Haras Körper zurück, zuckend. Er schnellte vom Boden auf, als sei nichts geschehen.

EINUNDZWANZIG
    »Signore Robusti«, sprach O'Hara, nicht ohne Feierlichkeit in der Stimme, »ich muß Sie mit einem Entschluß konfrontieren, der mir äußerst schwerfällt. Ich habe mein Leben lang mein Wort gehalten und jedes Versprechen eingelöst. Jedes. Nun, wie Sie wissen, bestimmen gerade die Ausnahmen das Geschick von Welt und Geschichte.«
    »Mister O'Hara.« Robusti versuchte ihn zu unterbrechen, Schreckliches ahnend, während O'Hara einen Briefumschlag hervorholte, den er Robusti mit einer Verbeugung überreichte. Sie standen steif und höflich da, wie zwei Diplomaten alten Stils, die sich gegenseitig die Kriegserklärung überreichen.
    »Signore Robusti, dieser Raum hier ist ein Tempel der Kunst geworden, und ich bitte Sie, diesen Brief nicht in meiner Gegenwart oder in Gegenwart unseres Kunstwerks zu entheiligen«, sagte O'Hara mit leiser Stimme. »Ich werde Sie in einer Viertelstunde aufsuchen. Ich danke Ihnen.« Und damit begleitete er Robusti wie einen Schlafwandler zur Tür und schloß sie hinter ihm.
     
    »Geehrter Herr«, so las Robusti tief schnaufend, »ich entbinde Sie hiermit höflich aller Abmachungen und finanziellen Vorschläge Ihrerseits ohne weitere Verpflichtungen. Das Kunstwerk – in statu nascendi – gehört dem Künstler. Das Kunstwerk – dies versteht sich – hat in diesem Fall das letzte Wort. Laura Granati ist das erste menschliche Wesen seit dem ersten Tag der Schöpfung, das seinen Besitzer selbst bestimmen kann, und ich bin überzeugt, daß Sie als Gentleman ihren Entschluß begrüßen werden.«
    Robusti fegte mit einem Faustschlag eine etruskische Vase von erheblichem Wert von seinem Schreibtisch und betrachtete mit grimmiger Lust die Scherben.
     
    Er wartete und wartete. Eine Viertelstunde, hatte O'Hara gesagt, ja, er sei in einer Viertelstunde bei ihm, zu einem Gespräch von Mann zu Mann. Fünfzehn Minuten also, genau die Zeit, die Zyankali benötigt für die Einleitung der Agonie und statistisch auch genau die Zeit, in der ein Grab für einen menschlichen Sarg mit mechanischer Hilfe ausgebuddelt werden kann.
    Omai O'Hara zeigte sich nicht.
    Robusti starrte auf die Uhr: Einundzwanzig Minuten waren vergangen, der Zeitraum, in dem laut medizinischer Statistik Hämorrhoiden operativ entfernt werden können. Er bewegte qualvoll seinen Hintern und erhob sich, ging auf und ab, tonnenschwer von Zorn und Kummer.
    Verletzungen des Gesetzes hatte er bisher immer mit Geld und seiner Beziehung zur Mafia lösen können, manchmal auch dank gedungener Linksextremisten. Nun, die Beseitigung O'Haras durfte keinen Mitwisser haben, absolut keinen, und in seiner Einsamkeit dachte er wieder einmal an seine Mamma. Nicht an die Mutterleiche, sondern die Mutter. Sie hatte immer Rat gewußt zu Lebzeiten; niemand in der ganzen Familie war ihrer Verschlagenheit gewachsen gewesen. Sogar als Seelsorgerin der Mätressen, deren ihr Gatte viele besaß, hatte sie für Ordnung gesorgt, damals.
    Ja, die Mutter. La Mamma. Eine Träne trat in je ein Auge Robustis; er tupfte sie mit dem Taschentuch ab, griff nach einem Stück Papier, schwarzgerändertes natürlich, entkapselte seine Füllfeder und begann – die Zungenspitze aus dem linken Mundwinkel hervorgestreckt, bübisch – zu schreiben. Langsam und mühselig.

ZWEIUNDZWANZIG
    »Kehre zurück, mein Kind Laura«, sprach O'Hara, »kehre zurück!«
    Sie öffnete die Augen, verharrte jedoch in ihrer Kniestellung. Omai O'Hara hob einen schweren goldgerahmten Spiegel von der Wand und stellte ihn auf den Boden, unmittelbar vor die Rückseite des Mädchens.
    »Schau zurück.«
    Laura gehorchte, starrte hinter sich, ungläubig, verträumt, bis Freude und Entsetzen zugleich ihr Gesicht in eine stierende Maske verwandelten, als wäre sie das erste Katzenwesen, das sich in einem Spiegel als Katze erkennt.
    Sie weinte vor Glück.
     
    Der Engel Shekinah, eine weibliche Manifestation Gottes in der himmlischen Engelheit, weilte hinter dem Spiegel und träumte vor sich hin. Zum ersten Mal beneidete sie einen Erdling und stellte sich vor, wie zum Beispiel die Milchstraße ihren

Weitere Kostenlose Bücher