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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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mit denen er ihre geschlossenen Augenlider streichelte.
    Laura schlief sofort ein.
     
    Omai O'Hara begann mit der Arbeit: Südamerika, Europa, Australien.
    Die winzigen Nadeln, die er von Zeit zu Zeit austauschte, surrten, setzten, dank seiner Ambidextrie, mit der Perfektion zweier Computer Punkt neben Punkt auf die Haut, so rasch, daß er Australien und Südamerika in derselben Minute vollendete.
    Schweißtropfen, die sich zu kleinen Bächen zusammenfanden, näßten seinen mondhellen Körper, verschwanden in Gruben und Falten der Haut und flossen auf den Teppich.
    Dann Europa: das herzlose Hirn, und dahinter die Endlosigkeit Asiens.
     
    O'Hara ließ sich zurückfallen, ruhte aus, ohne die Augen zu schließen.
    Eine Stunde verging: So lange benötigt ein Samen, um das wartende weibliche Ei zu erreichen, dort an die Tür zu klopfen und um Einlaß zu bitten, der besonders in unnötigen Fällen gewährt wird. In den meisten Fällen ist es unnötig.
    Nein – das eigentliche Werk begann erst jetzt.
    Omai O'Hara hatte in jahrelangen Experimenten eine Flüssigkeit herzustellen versucht, die bei innigem, verzehrendem Verlangen Töne, Musik aus der menschlichen Haut hervorzaubern sollte.
    Ja, Musik.
    Die Haut, so hatte er immer geahnt, ist das Tiefste am Menschen. Wenn die Haut tatsächlich das Tiefste war, so wußte sie Musik nicht nur zu empfangen, sondern auch auszusenden.
     
    Omai O'Haras Lieblingskomponist war Vivaldi und dessen Werk Die vier Jahreszeiten.
    Der Engel Salius, ein Dämon der siebten Stunde, ist in seinem persönlichen universellen Kreis und unter seinen Kollegen als ein Schalk bekannt, der besonders den Erdlingen Wahnvorstellungen eingab. So etwa die synthetische Herstellung von Gold, die Quadratur des Kreises, die allgemeine Liebe von Mensch zu Mensch, den ewigen Frieden auf Erden, das Perpetuum mobile, die unwiderlegbare Beweisführung der Existenz Gottes und viele andere alberne Dinge.
    Es war jedoch tatsächlich dieser Engel, der alle geschlossenen und versiegelten Türen zu öffnen vermochte; er war Herr und Meister aller magischen Künste. Vor allem liebte er die von Menschen als verrückt bezeichneten Genies. Er war allerdings launisch und unberechenbar und ließ verrückte Genies zuweilen einfach als verrückte Genies im Stich, gab sie dem Gelächter der Zeitgenossen gnadenlos preis, weshalb sie meist im Irrenhaus ihre letzten Jahre verbrachten. Ganz im Stich jedoch ließ der Engel Salius seine einstigen Günstlinge nie. Er besuchte sie in den Irrenhäusern und tröstete sie, indem er den Wahn in ihren Seelen aufrechterhielt.
     
    O'Hara hatte die himmlische Existenz des Engels Salius vor vielen Jahren ausfindig gemacht und ihn um Hilfe gebeten. Immer und immer wieder.
    Und der Engel half ihm.
    Eines Morgens verfärbte sich die Flüssigkeit im Reagenzgläschen wie ein Kaleidoskop. Omai O'Hara stand davor, sang leise, dann etwas lauter vor sich hin, wartete atemlos: die Flüssigkeit begann ihm nachzusingen, kaum hörbar zuerst. Alles will gelernt sein.
    Und die Flüssigkeit lernte tatsächlich.
    Nämlich zu singen, nicht nur zu singen, nachzusingen, sondern zu musizieren!
    Das Element Flüssigkeit als Musik.
    Und an jenem Tag, da O'Hara die Gnade des Engels Salius widerfuhr, rief ihn Signore Antonio Robusti aus Mailand an.
     
    Mit einer Nadel tupfte O'Hara die Vier Jahreszeiten Antonio Vivaldis auf den prachtvollen Globus Laura Granatis, hörte die Musik ab Band, I Musici di Roma, tätowierte mit der Flüssigkeit des Engels Salius die Noten in die Haut und ließ Klang für Klang eindringen.
     
    Nach weiteren drei Stunden ließ er Lucia kommen: Man möge einen Chauffeur nach Mailand schicken, um Signore Robusti abzuholen: Das Werk sei nun beendet.
    Lucia strahlte vor Glück. Nicht weil das Werk Laura nun vollendet war, sondern weil ihr der Meister in einer Liebesstunde eine Gazelle auf den Klumpfuß tätowiert hatte. Nicht als Belohnung für die Liebesstunden: Lucia wußte mehr über Robusti, als O'Hara hatte ahnen können. Sie kannte Namen, Verbindungen, Hintermänner und wußte sogar Bescheid über Robustis Direktverbindungen zu Kardinälen des Vatikans. Sie war die geborene Mata Hari, der Klumpfuß ihre raffinierte Tarnung.

ZWANZIG
    Es war genau zwei Uhr morgens, als Robusti zurückkehrte und, ohne zu klopfen, eintrat. Er war unrasiert und ein wenig betrunken.
    »Sie sind keine Minute zu früh gekommen«, sprach O'Hara und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der

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