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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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Stirn.
    »Kommen Sie.«
    Robusti zögerte.
    Er konnte seinen Blick nicht lösen von diesem Kunstwerk; schon unter der Tür erblickte er immer neue Bilder, die sich arabesk ineinander vermengten, sich mit jedem Schritt veränderten, kaleidoskopisch.
    »Treten Sie näher. Hier. Knien Sie nieder.«
    Robusti gehorchte.
     
    Aus dieser Distanz glaubte er zuerst Teile, Einzelteile der primären und sekundären, der weiblichen und der männlichen Geschlechtlichkeit zu erblicken. Sie überzogen alle fünf Kontinente auf den beiden Halbkugeln: Australien erschien ihm als Vagina, Inselgruppen als Spermatozoen, Bergzüge wie die Anden schienen als männliche Lenden über den südamerikanischen Kontinent zu hüpfen, verschlungen vom grünen Schamhaar der Regenwälder. Afrika sah er als Phallus mit der Westsahara, Mauretanien und die Goldküste als anschließendes Dattelgebilde, die russische Kamtschatschka, so halluzinierte er, baumelte geil zu den gelben japanischen Schlitzen und Grübchen, Rußland erigierte sich halbstark vom Schelechow-Golf und dem Tschutkensee bis zum völkerverlaichten Europa… Biologische Sexualität.
    »Und nun kommen Sie fünf Zentimeter näher«, befahl O'Hara.
    »Schließen Sie Ihr linkes Auge, ja, und fixieren Sie die rechte Halbkugel. Was sehen Sie?«
    Robustis Atem ging schneller. »Unglaublich«, stieß er hervor, »einfach unglaublich.«
    »Übertreiben Sie nicht«, bemerkte O'Hara kalt, »schließen Sie nun das rechte Auge, richtig. Nun machen Sie folgendes: Schließen Sie für je eine Sekunde das eine Auge, dann das andere, das rechte, das linke, das rechte, das linke, das rechte, das linke, pausenlos alternierend. Warten Sie meinen Befehl ab. Ja?«
    O'Hara ließ sich Zeit, folgte mit ruhigem Blick dem Sekundenzeiger seiner Armbanduhr. »Los«, befahl er. »Jetzt!«
    Robusti öffnete in rascher Folge das eine, dann das andere Auge, minutenlang.
    O'Hara grinste triumphierend, betrachtete Robustis auf dem Boden aufgestützte Handgelenke und sah, wie sie zu zittern begannen, ein Zittern, das sich in die schwülstigen Finger fortsetzte, dann zurückkroch, die Unterarme hinauf, die Oberarme, bis die Schultern des bekanntlich nicht mehr jungen Mannes in eine Art Eigenschwingung gerieten.
    Robusti reckte sich, seufzte und rieb die Augenlider; er versuchte vergeblich, sich zu erheben.
    »Nun? Was haben Sie gesehen? Erzählen Sie!«
    »Gott!« stieß Robusti hervor. »Gott!«
    »Gott haben Sie nicht gesehen, seien Sie froh. Also?«
    Robusti suchte nach Worten. »Alles setzte sich in Bewegung«, stammelte er. »Alles begann sich zu verwandeln, zu bewegen.«
    «Weiter!«
    »Alles in Schönheit dennoch. Der Nordpol begattete Afrika, Südamerika streckte Mittelamerika in den Bauch Nordamerikas, und Nordamerika explodierte und…«
    Im angedeuteten Farbengeflimmer erkannte Robusti nun unzählige Liebespositionen. Er dachte an Ovid. Die Liebespositionen waren angedeutet von Flüssen, Meeresbuchten, Umrissen der Kontinente, Ländergrenzen, Seen, Wüsteneien.
    »Das alles glauben Sie zu sehen«, unterbrach O'Hara sein Staunen, »Ihre Phantasie hat mitgearbeitet, Ihre Lüste, Ihre Träume und all das. Das hat meine Kunst in Ihnen ausgelöst. Meine Kunst.«
    Primo Antonio nickte geistesabwesend. Er dachte an den Tod, starrte noch immer die zwei wunderbaren satten Halbkugeln an und dachte wieder an den Tod.
    Dann versuchte er zu erzählen, was er gesehen hatte.
     
    »Das ist mir alles bekannt«, sagte O'Hara, half dem zitternden Mann auf die Füße und führte ihn zu einem Fauteuil. »Was war neu?«
    Robusti schreckte auf.
    »Ja. Und dann kam das Wunderbare. Das Unbegreifliche.« Diesmal kniete O'Hara vor ihm nieder, und nun waren es seine Hände, die zitterten: »Was war's? Reden Sie! Was war's?«
    Robusti versuchte Atem zu schöpfen, keuchte, doch O'Hara riß ihn erbarmungslos an der Krawatte. Ja, er war außer sich, schrie: »Was war's? Was war's? Jetzt wird nicht gestorben, nein, nein, noch nicht, was war's?«
    Nach einer langen Pause antwortete Robusti und öffnete die Augen wie ein Sterbender: »Musik.«
    Omai O'Hara stieß einen graniterbebenden Schrei aus, sprang in die Höhe, sprang höher und höher, bis sein Schädel beinahe die Decke erreichte. Er brüllte:
    »Endlich! Endlich! Endlich! Niemand! Niemand! Ich, ich hab's vollbracht! Die Haut ist das Größte, ja, die Haut des Menschen ist das Größte der Schöpfung! Die Haut fühlt, denkt, empfängt, horcht, arbeitet, spricht, denkt, musiziert – ja,

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