Geographie der Lust
gefächert waren wie drei Stimmgabeln. Die Hand des Engels Ruman zitterte. Lauras Trauer war also echt.
Rumans Aufgabe war es, die Verstorbenen zu sich zu rufen und alle ihre üblen Taten aufzuzeichnen, bevor er sie zu seinen Kollegen-Engeln Munkar und Nakir schickte. Beide Engel sind schwarz wie Kohle. Selbst die Flügel sind schwarz. Doch die Augen sind blau wie die eines Sees im Gebirge, kalt und hell. So besagt es die arabische Dämonologie.
Munkar und Nakir sind Meister im Kreuzverhör wie amerikanische Staatsanwälte im Film. Unschuld interessiert sie nicht. Wer interessiert sich schon für Unschuld? Schuld also. Der tote Omai O'Hara stand stolz, aufgerichtet wie ein Grenadier vor den Engeln Munkar und Nakir.
Er verurteilte sich selbst für seine Eitelkeit.
Da laut den Propheten alles eitel ist, alles, nickten ihm die beiden Engel Munkar und Nakir wohlwollend zu.
FÜNFUNDZWANZIG
Primo Antonio Robusti stand nackt auf der Waage. Die Füße in soldatischer Ordnung, die Schultern zurückgereckt, den Atem für Augenblicke in der gewölbten Brust zurückhaltend, das geölte Haar nach hinten gekämmt, die Augenbrauen gebürstet, die Härchen aus den Nasenlöchern geschnitten, die Schamhaare mit Shampoo gewaschen und luftig gefönt, die Zehennägel gefeilt, die Muskelpartien mit Olivenseife geschmiert, die Glatze unter der Höhensonne nochmals gebräunt, die Vorhaut überprüft, die Haut des Hodensacks mit verdünntem Alkohol gestrafft und die Achselhöhlen mit Versace Uomo diskret besprayt, die winzigen Falten der sich anzeigenden Tränensäcke unter den Augen glattmassiert. Da er den ganzen Tag gefastet hatte, zeigte die Waage sogar sechshundert Gramm weniger als sein zwanzigjähriges Idealmaß an, achtundsiebzig Kilo und sechshundert Gramm.
Er war nicht unzufrieden. Mit einem vergrößernden Handspiegel überprüfte er die Poren der Nasenhaut, drückte da und dort ein winziges Talgtüpfchen mit den Daumennägeln aus und wischte es mit einem Wattebäuschchen ab, rasierte sonst kaum sichtbaren Haarflaum von den Wangenknochen und behandelte die Zähne, seine tatsächlich echten, mit der neuesten amerikanischen Erfindung, nämlich mit Perlmutterschaum, einer glänzenden Paste, die laut Reklame mehr als vier Stunden haftet, gefeit gegen Alkohol, Nikotin und weiblichen Mundspeichel.
Robusti bleckte die Zähne und rieb mit Stim-U-Dent-Hölzchen die Zahnkanten, griff hierauf, noch immer auf der Waage stehend, nach einem Männer-Magazin, in dem er drei wunderbare Mädchenkörper fixierte, zumindest mit dem rechten Auge, während das linke den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr anschielte. Dergestalt konnte er abzählen, wie lange es dauerte, bis sich sein Glied aufgerichtet hatte: Hundertzweiundzwanzig Sekunden.
Robusti war enttäuscht, wartete das Erschlaffen ab und versuchte es nochmals, mit geschlossenen Augen – diesmal mit einer sehr persönlichen Lustvorstellung – und erzielte dabei das Resultat von hundertachtzehn Sekunden. Er ließ das Heft fallen, griff nach einem resedagrünen Morgenmantel, ließ ihn lässig über die Schultern gleiten und schlüpfte schließlich in die Ärmel. Der nackte Halsausschnitt mit den starken Sehnen störte sein ästhetisches Empfinden; er band einen Seidenschal um, der um eine kleine Tönung dunkler war als seine Hautfarbe. Er befreite seine Nase restlos von Feuchtigkeit, fuhr, eine Art Atavismus, mit der Hand über die Glatze, als gäbe es dort noch Haar zu ordnen, warf einen sportlichen Blick auf die Armbanduhr und machte sich auf zum Gefecht.
Die langen, hohen Korridore lagen in Schweigen. Eine Fledermaus sirrte über Robustis Kopf hinweg. Vor einem Fenster blieb er stehen und sah in den Park hinunter. Der Morgen dämmerte bereits. Das Gras glitzerte im Tau, und die Statue eines griechischen Jünglings schien auf der Stelle zu treten, gleichsam die Muskeln lockernd vor dem Start zum Marathonlauf; doch als Robusti einen zweiten, etwas irritierten Blick auf ihn richtete, erstarrte er wieder in Bronze und Kunst.
Primo Antonio Robusti schritt weiter. Daß die hundert Augen des Personals auf ihn gerichtet waren, durch Schlüssellöcher, Türritzen und Nischen, war er längst gewöhnt.
Ein großer Feldherr ist immer allein.
Robusti erblickte im Halbdunkel das französische Bett, auf dem Laura kniete, anscheinend inbrünstig betend ja, die Inbrunst wurde vernehmbarer, als Robusti näher kam, sie war ihm vertraut, erinnerte an Mutter, Großmütter, an die Schwester und
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