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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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erblickte sie, ja erblickte sie den schlafenden O'Hara, von dem sie glaubte, er sei tot, den schönsten Toten also, den sie je gesehen hatte. Jung noch, nackt und regungslos wie eine Skulptur.
     
    Sie verliebte sich augenblicklich. Gott hatte diesen jungen toten Mann für sie auserwählt. Nur für sie. Sie zog ihr besticktes Leichenhemd aus und weckte den Gefährten für die Nacht, vorsichtig. Sie ließ ihre bloß von Haut überzogenen Finger von der Brust über den Nabel hinuntergleiten, streichelte seinen Bauch, zerzauste neckisch die Schamhaare, dann liebkoste sie seine Augenlider.
    O'Haras Hand zuckte, als versuchte er Fliegen zu verscheuchen, beruhigte sich, stöhnte im Schlaf – er schreckte auf.
    Die Mutterleiche versuchte ihn zu beruhigen, versuchte ihre Liebe zu erklären, leidenschaftlich sogar, als Ebenbürtige, als Gleichdenkende, als Schicksalsgenossin – tot ist tot, wozu die Hemmungen? Sie hätten beide nichts mehr zu verlieren, wisperte sie, was ihr nur gelang, weil Omai O'Hara vor Abscheu und Entsetzen die Sprache verloren hatte. Bei jeder Berührung der spitzen, kalten Hand, die sich wie der Gefriertruhe entnommen anfühlte, entrang sich seiner Kehle ein japsender Schrei. Seine Hände zappelten, fanden schließlich eine Lampe, und dies im nämlichen Augenblick, da sie noch einmal mit der Hand nach seinem Lebensstengel griff, ihn verpaßte – und noch einmal und noch einmal –
    Diesmal lösten sich die Sekunden wie in einzelne Atome auf.
    Eine Sekunde: Ein Meteor legt im Weltall in einer Sekunde 40000 Meter zurück.
    Eine Sekunde und ein paar Bruchteile einer Sekunde braucht das Mondlicht, um die Liebenden auf unserer Erde zu beglücken.
    Und noch eine dritte Sekunde, aber auch nur eine Sekunde: Acht Millionen roter Blutzellen sterben während dieser lächerlich kurzen Zeit in einem erwachsenen Menschen ab.
     
    Die Mutterleiche schrie: »Wo bleibt die Solidarität? Wo? Wo zum Teufel bleibt die Solidarität der Toten?«
    Omai O'Hara stand nun aufrecht auf dem Bett, griff an sein Herz, fiel vornüber und brach sich das Genick. Immerhin: Er hatte sich noch im Sturz fallen sehen, im Spiegel. Er hätte ein schöneres Ende nehmen können. Aber er starb voller Bewunderung.
    Als er auf den Boden hinschlug, tönte es so laut, als hätte eine Kegelkugel sämtliche Kegel umgeworfen. Das Dröhnen drang in sämtliche Gemächer und Kammern des Palazzos, bis hinunter in die Kellergewölbe.
    Selbst die versteckten Bilder erwachten – die Porträts und zwei oder drei Stilleben gerieten in Eigenschwingung – die Porträtierten verzogen ihre schönen Gesichter zu Grimassen, besannen sich jedoch auf ihre Würde und fanden ihren vornehmen Ausdruck wieder.
     
    Das Dienstpersonal eilte aus allen Stockwerken zum Epizentrum des Bebens. Allen voran Primo Antonio Robusti. Fassungslos blickte er auf den toten O'Hara.
    Langsam senkte er die Arme und ließ sie alle einen Blick auf die Unglücksstätte werfen, und die ganze verkrüppelte Dienerschaft weinte über die Allgegenwärtigkeit des Todes.

VIERUNDZWANZIG
    Robusti wohnte mit Gelassenheit dem Abtransport von O'Haras Leiche bei, hob das Tuch, das dessen Gesicht bedeckte, noch einmal hoch, um sicher zu sein, zwängte die Spitzen von Zeigefinger und Daumen zwischen eines der geschlossenen Augenlider und war beruhigt. Er war wie alle Ästheten grundsätzlich ein Gegner der Feuerbestattung, ja er beanspruchte für den Fall seines eigenen Todes, der ja nur ein Scheintod hätte sein können, den sogenannten Herzstich, der alle Überprüfungen, wie zum Beispiel leichter Niederschlag des Atems auf einem Spiegel, erübrigte.
    O'Hara war tot. Die beiden Silberköfferchen ruhten bereits in einem Safe Robustis.
    Die Siegesnacht, anders konnte man sie nicht bezeichnen, brachte viel Arbeit mit sich.
    Robusti mußte sich telephonisch versichern, daß Omai O'Haras Leiche in Mailand gut angekommen war und für eine Obduktion am folgenden Tag bereitlag. Es war alles in Ordnung. Man dankte mit exquisiter Höflichkeit – Grazie mille, Professore Robusti –, Robusti war sonst nicht dafür bekannt, daß er persönlich um eine Leiche besorgt war. Man wußte es zu schätzen.
    Während er schlief, schlich Lucia zu Laura und erzählte ihr, was geschehen war.
    Laura weinte, und Lucia weinte mit ihr. Lucia weinte wegen ihres Klumpfußes, eine ehrliche Trauer.
    Ruman, ein Engel der unteren Ordnung, legte Laura seine rechte Hand auf die Stirn. Seine Hand bestand aus sechs Fingern, die

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