Geographie der Lust
geborenen Sieger, und als sie schließlich »Dio! Dio! Dio!« kreischte, befand er sich in einer Oper, fühlte sich persönlich angerufen als Dio! Dio!; er wollte sich von diesem neuen Sieg nicht aufhalten lassen, keine Olympiade ohne Primo Antonio Robusti – Marathon, Kugelwerfen, dann wieder ein Sieg im Hundertmeterlauf –
»Achtung! Achtung!« hörte er eine Lautsprecherstimme, »Robusti liegt im 1000-Meter-Lauf dicht hinter Jesse Owens, nur wenige Zentimeter trennen die beiden Favoriten.« Laura wußte nicht, warum sie an die gelben Zähne ihrer Großmutter dachte und an den Hofhund, der Plinio hieß und Gorgonzola liebte. Robusti ritt weiter, hörte Beifallrufe wie: »Fittipaldi, Fittipaldi! Robusti! Robusti!«, und er vernahm den Lärm der Formel-I-Piloten; der Motor in seinem Innern brauste wie Donnerhall, Robusti trat auf das Pedal, und plötzlich – ja, plötzlich stieg seine Maschine in die Höhe, Flugzeugflügel klappten links und rechts auf, und er schoß dem Himmel entgegen. Sieger!
Robusti hielt inne, sah in die Tiefe, zur Erde, suchte nach einer Landemöglichkeit, doch er hielt die Flugmaschine nicht mehr unter Kontrolle. Sie kreiste in Loopingkurven am Himmel und brauste schließlich unaufhaltsam in die Tiefe, wo er sein eigenes Herz als sekundenanzeigende Digitaluhr erblickte. Er riß das Steuer in die Höhe, die Maschine gehorchte, sie stieg himmelwärts wie ein Jet.
Irgendein Idiot, ein Pädagoge oder ein Polizist, hatte eine Schiefertafel hingestellt, mitten in den hellblauen Himmel. Er konnte noch diese Worte entziffern:
Hast Du Deine Hausaufgaben erledigt, die Zähne geputzt, die Hände gewaschen, die Ohren gereinigt? Robusti spürte die Erde unter sich beben.
Robusti konnte die Fragen nicht mehr beantworten.
Der Engel Hodniel, dem die Kraft gegeben war, die Menschen vor ihrer eigenen Dummheit zu retten, stand sprachlos an der himmlischen Stelle, an der Robusti aus dem Diesseits befördert wurde.
Er ließ ihn wortlos an sich vorbeigehen und biß vor lauter Verachtung in einen der Äpfel, der am Baum der Erkenntnis hängen geblieben war.
Es war dies der letzte Apfel, der gegessen wurde. Die übrigen faulten am Boden vor sich hin.
SECHSUNDZWANZIG
Die Schockwellen eines Erdbebens durchqueren, vom jeweiligen Epizentrum aus, in sechsundzwanzig Minuten den Erdball.
Die neun Schockwellen, die Primo Antonio Robusti in Laura zu deren unverhohlener Lust ausgelöst hatte, dauerten ebenfalls sechsundzwanzig Minuten.
Doch dann ergriffen sie sein Herz.
Robustis letzter wacher Blick galt noch einmal den tätowierten Halbkugeln, die er lustvoll mit allen Fingern geknetet hatte, so als könnte er sie noch einmal neu gestalten, neu formen; er wußte, daß alles zu Ende war.
Er dachte an die Bibelsammlung im Keller, an die sinnlos gewordene Sonne Italiens, hörte die Stimmen seiner Kinder verklingen, das Meer von Tönen, Klängen und Begeisterungsschreien, die er, Komponist und Dirigent in einem, den schönsten Frauenmündern der Welt entlockt hatte, ER, Primo Antonio Robusti.
Gott würde nun sein Nachbar werden.
Dann fiel die Nacht endgültig in sein Gehirn.
Beinahe. Ein Funke Leben war noch in ihm, diesem künftigen Kadaver mit Namen Robusti, Primo Antonio.
Natürlich schrie Laura entsetzt auf. Sie hatte viele Männer geschwächt und gelernt, daß vor allem starke Männer sich nach Schwäche sehnen. Bewußtlos war allerdings keiner geworden.
»Caro, Caro, amore, amore«, flüsterte Laura in Robustis rechtes Ohr, dann in sein linkes. Groß jedoch war ihr entsetzen, als Pulsschlag für Pulsschlag, obschon Robustis Brust sich kaum mehr hob, das Zepter mit königlichem Stolz wieder aufragte, als wäre nichts geschehen.
Sie war außer sich.
»Nieder, nieder!« schrie sie. »Nieder! Nieder! Gehorche deinem Herrn und Besitzer!«
Das Angesprochene ließ sich nicht beeindrucken. Laura schlug dreimal das Kreuz.
Schließlich legte sie das linke Ohr auf seine Brust. Das Herz schlug nicht mehr. Laura erhob sich schreiend, wand ein Leintuch um ihre Hüften, ihre Hände zitterten, und sie erblickte die Mutterleiche, die ihre künstlichen Zähne klappern ließ und triumphierend die zurückeroberte Schmuckschatulle in ihren Händen hielt, böse grinsend.
Lauras Angst und Entsetzen verwandelten sich in Wut.
Sie traf mit ihrem starken rechten Fuß gegen das Schienbein der Mutterleiche, das wie japanischer Karton einknickte, entriß der Schatulle eine Perlenkette und ein paar sonstige
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