Geographie der Lust
Schmuckstücke, raste hinaus und wirbelte die endlosen Treppen hinunter.
Lucia hatte seit Stunden in einem Taxi gewartet und warf Laura einen Regenmantel über die Schultern.
Kiesel stoben auf, und der Chauffeur, ein Freund Lucias, brauste ohne Scheinwerferlicht durch den Park, Richtung Mailand.
Die Mutterleiche schleppte sich zu ihrem toten Sohn, legte sich zu ihm und umklammerte ihn leidenschaftlich. In dieser Umarmung fand sie endlich ihre Ruhe. Zu Lebzeiten hatte sie, wegen ihrer mütterlichen Sehnsucht, zusammengerechnet sechs Jahre mit gefalteten Händen und von Inbrunst und Arthritis schmerzenden Knien gelitten. Sechs Jahre, die echter Chianti braucht, um reif und zärtlich im Geschmack zu werden.
Im Jenseits gibt es kein Irrenhaus.
Zweiter Teil
EINS
Geld darf nie unerwähnt bleiben: Laura trug den Erlös aus dem Schmuck der Mutterleiche, immerhin vierzigtausend Dollar, zur Hälfte in bar und zur Hälfte in Travellerchecks bei sich. Sie glaubte nur an Bargeld, Lucia verwaltete das künstliche Geld.
Giuseppe Zanoni, seit vier Monaten der renommierteste Hair-Stylist Mailands, hatte sie glücklich beraten. Laura war von Stund an die Eingerahmte Dame: ihr Gesicht war eingerahmt von Haar, das ihre Stirn im waagrechten Schnitt bis wenige Millimeter über den Augenbrauen bedeckte und seitlich senkrecht über die Wangen fiel. Sie trug eine rechteckige Sonnenbrille, und ihr herzförmiges Lippenpaar glänzte hellrot zwischen rotvioletten schmalen Konturen.
Lucia, ganz in Schwarz, saß neben ihr in der Alitalia-Maschine Mailand-New York, erster Klasse, wie eine schwarze und eine rote Rose. Ihr Gesicht war bis zur Nasenspitze verschleiert, und als die Maschine abhob, holte sie – zum ersten Mal seit der Kindheit – eine Bibel hervor und blätterte darin, las sogar. Die Hostessen senkten ihre Stimmen zum Flüsterton, wenn sie an ihnen vorbeigingen. Beide wiesen mit Kopfschütteln das Essen zurück, begnügten sich mit einem Fläschchen San Pellegrino, ließen sich vom Motorengeräusch einschläfern und dösten vor sich hin. Laura sprach im Halbschlaf zu sich selber, Englisch natürlich, wie es ihr eine Sprachlehrerin in vier Wochen intensiven Lernens beigebracht hatte. Lucias Englisch war fast perfekt. Vor Jahren hatte sie mit einem geschiedenen amerikanischen Baseball-Star, der an Depressionen litt, Italien und Nordafrika bereist.
Laura hatte in diesen vier Wochen immerhin so viel Englisch gelernt, daß sie die amerikanischen Zeitungsartikel lesen und verstehen konnte, die mit einem Thema die Kioske Westeuropas überfluteten: Omai O'Haras Tod!
Das Magazin Newsweek schenkte O'Hara eine Titelgeschichte, die von seinem meteorartigen Aufstieg erzählte, von seinen Ehefrauen (mit der vierten war er noch immer verheiratet gewesen), seinen Liebschaften, seinem Marktwert. Für die tätowierte Oberschenkelhaut einer bekannten TV-Schauspielerin waren die Woche zuvor bei Sotheby's sechshundertfünfzigtausend Dollar geboten worden. Das Magazin hatte das Kunstwerk reproduziert: ein Cheeseburger in einer Schüssel mit Salaten in sieben Grüntönen. Die Schauspielerin war angeblich an einer Überdosis von Schlafmitteln gestorben, doch es gingen Gerüchte über Machenschaften der japanischen Mafia um, nicht unplausible. Nach gerichtsmedizinischem Gutachten war das Stück Haut elf Stunden vor dem angeblich freiwilligen Tod der TV-Schönheit von ihrem saftstrotzenden Schenkel entfernt worden.
Laura erschrak für siebenundzwanzig Sekunden, die Zeitdauer, die ein japanischer Futterautomat der Firma Kawasaki benötigt, um Spaghetti Bolognese zu erhitzen. Dann lachte sie; aber die Heiterkeit wich Melancholie, als sie Aufnahmen von Omai O'Haras faszinierendem Gesicht erblickte. Und sie erschrak: In der Zeitschrift war ein Bild von ihr abgedruckt, auf dem sie etwa zwölf Jahre alt war. Der Name stimmte nicht. Doch es war ihr Porträt.
»Dieses Mädchen, so wird in Fachkreisen erzählt, ist mit dem letzten Kunstwerk des jüngst verstorbenen Meisters geschmückt. In einem seiner letzten persönlichen Telephongespräche soll Omai O'Hara diese Tätowierung als Höhepunkt seines Schaffens bezeichnet haben.«
Ferner war die Rede von einer Amerika-Tournee der jungen, einzigartig schönen Frau – aber es könne sich um ein Gerücht handeln.
Hingegen werde das Haut-Kunstwerk von Kennern bereits in schwindelerregender Markthöhe eingeschätzt: 1,5 Millionen.
Im Editorial einer andern Zeitschrift gab sich ein Kenner des
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