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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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Kunstmarktes befremdet und entsetzt wegen dieser neuen Wendung im Kunsthandel, bezweifelte dann mit Ironie die Glaubwürdigkeit der Berichte aus den Fachkreisen der Tätowierungskunst und sprach von einem der »Auswüchse in der Subkultur, die an die schrecklichsten, unmenschlichsten Tiefpunkte der Zivilisation erinnern«.
     
    Trotzdem saß nun Laura an Bord jener Maschine nach New York, wo ihre Tournee starten sollte, Stadt für Stadt, wobei sie für einen Abend einen Betrag in Empfang nehmen sollte, mit dem sich zum Beispiel eine ganze Konditorei in Palermo kaufen ließ.

ZWEI
    Wie üblich warteten am Ausgang des Kennedy-Airports die Menschen wie eine Ansammlung von Blattläusen, grau und bewegungslos. Als aber Laura und Lucia auftauchten, griffen zwei unbekannte Männer nach ihrem Gepäck und eskortierten sie zu einer Limousine. Dann verschwanden sie sogleich wieder. Den Blitzen der Photographen waren sie dennoch nicht entronnen.
    Die beiden jungen Frauen waren sprachlos vor Angst, doch nur für Sekunden, denn es gehört nicht zu den Eigenschaften der Italiener, ausgerechnet der Angst keinen Ausdruck zu verleihen, und so schnatterten sie daher wie Gänse in jener Nacht, da sie Rom vor einer Invasion der Feinde gerettet hatten.
    »Ladies«, unterbrach der Chauffeur sie schließlich, »wo möchten Sie hin? Zur Statue Garibaldis am Washington Square?«
    »Wayawanda-Hotel«, antwortete Lucia, »37. Straße, West. Wissen Sie, wo sich das befindet?«
    »Keine Ahnung«, antwortete der Chauffeur sarkastisch, »aber ich weiß, wo die 36. Straße ist.«
    Laura erblickte zur Rechten einen endlosen Friedhof mit Tausenden von Grabsteinen. Sie war entzückt, weil gleichzeitig die Türme Manhattans zu sehen waren. Der Friedhof mit den Grabsteinen sah aus wie der Kindergarten Manhattans, und sie dachte: Die Grabsteine sind hier gesät worden, und eines Tages werden sie so groß sein wie ihre Eltern dort drüben, die Wolkenkratzer.
    Es war ein Samstag. Ein Engel dieses Tages, Uriel mit Namen, geleitete die beiden in ihre Zimmer im achten Stockwerk und veranlaßte zwei der doormen, ihre Gepäckstücke zu tragen.
    Uriel segnete ihnen als Dank den Abend dieses Samstags und sorgte für ein Fernsehprogramm, das den beiden doormen und ihren Familien noch besser gefiel als das vom vergangenen Samstag.
    Sie erfuhren nie, wer ihnen dieses Glück beschert hatte. So verhält es sich mit dem echten Glück der Menschen.

DREI
    Die Telegramme, die Laura überraschend erhielt, stammten vom ungeduldig wartenden Clan Omai O'Haras – ein begeistertes WILLKOMMEN, SANTA FE WARTET. BITTE SOFORT ANRUFEN.
    Absender des dritten Telegramms war die italienische Gesandtschaft in New York: Miss Lucia Florentano – BITTEN DRINGEND UM ADRESSE VON MISS LAURA GRANATI IM AUFTRAG DER GESELLSCHAFT KULTURELLER BEZIEHUNGEN USA-ITALIEN MIT VORZÜGLICHER HOCHACHTUNG.
    »Eigentlich habe ich das alles O'Hara zu verdanken«, sagte Laura überwältigt.
    »Dankbarkeit ist ein Begriff, der besagt, daß man früher oder später eine Rechnung zu begleichen hat. Dankbarkeit lohnt sich also nicht.« »Laß uns Frühstück bestellen«, fügte Lucia hinzu und griff nach dem Telephonhörer.
    Laura hüpfte mit fleischig-bebenden, immer in Textilien verpackten Hinterbacken zum Fenster. Sie guckte auf die Straße hinunter.
     
    Dort war eben ein Hydrant explodiert, und Wasserfontänen spritzten über den dampfenden Asphalt.
    Wenige Meter hinter dem Hydranten blieb mit einem Dutzend anderer Leute ein blinder Mann stehen, der mit der weißen Rute tastend den Boden bestrich, dann mit raschen Schritten über die Straße ging, angehupt von wütenden Taxichauffeuren, begossen vom Wasserstrahl.
    Das Wasser troff an ihm nieder; er ging dahin zurück, von wo er gekommen war.
    Niemand lachte.
    Laura erschrak.
    Der Blinde starrte unverwandt zu ihrem Fenster empor. Sie lächelte verlegen und wollte sich abwenden, als ein gewaltiger Taubenschwarm am Fenster vorbeiflog, sich himmelwärts hochzog, abdrehte und hinter dem Häuserhorizont verschwand.
    Die Leute auf der Straße duckten sich unwillkürlich, verängstigt: Die Tauben hatten einen Regen winziger Splitter von Gillette-Rasierklingen fallen lassen. Niemand wurde verletzt und in dieser Metropole vergißt man auch das Absonderlichste bald wieder.
    Der Blinde sah anscheinend noch immer zu ihr hinauf. Er schwenkte sogar den weißen Stock.
    Ihr Herz klopfte. Sie verbarg sich für Minuten und sah wieder hinunter.
    Noch immer starrte er zu ihr

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