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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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empor. »Ist was?« fragte Lucia.
    »Irgendeiner spielt da unten den blinden Mann und will mich verarschen«, antwortete sie. »Aber er gefällt mir.«
    »Der ist vom Hotel-Management angestellt«, antwortete Lucia. »Das machen die Amerikaner für Touristen, die sich langweilen.«
    »Könntest du dich in einen Blinden verlieben?« fragte Laura.
    »Nein. Vielleicht in einen Taubstummen«, antwortete Lucia und nippte an einem Glas Orangensaft. »Der fragt nichts Blödes, und man muß nicht antworten.«
    »Eigentlich müßte jeder anständige Mensch blind sein, findest du nicht?«
    »Seit wann denkst du über Anstand nach?« fragte Lucia spöttisch, aber bemerkte zugleich, daß Laura blaß geworden war und den Vorhang hastig zuzog.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß es wirklich nicht.«
    Folgendes hatte sich ereignet.
    Haamiah gehört zu den Engeln aus der Ordnung der Macht. Er wacht über jeden religiösen Glauben und beschützt alle Wesen, die nach Wahrheit suchen.
     
    Haamiah sah sehr verbraucht aus, wie man sich vorstellen kann. Seine Hände waren von Tintenbleistiften verschmiert, und von den reinen weißen Flügeln abgesehen, ähnelte er dem Kellner eines Wiener Cafes, der über die sogenannte Wahrheitssuche der Menschen nachgedacht und viel gelacht hat. Er sah – man schrieb das irdische Jahr 1988 – seiner Pensionierung entgegen, hatte jedoch nicht die geringste Ahnung, was das bedeuten könnte.
    Nun stand er – auch für ihn auf nicht faßbare Weise – unversehens vor Lauras Angesicht, betrachtete es und entdeckte einige winzige Flecken des Unhimmlischen an ihr, nicht größer als die Kakaosprenkel auf einem Kleinkinderlatz: die Welt ist unrein. Aber nicht dieses Mädchen, Laura, das bisher einfach ein bißchen dumm, unerzogen und sündig gewesen ist. Sündig, jedoch nicht liebesunfähig.
    Das war für ihn das Wichtigste.
    Er sah auch die Tätowierung auf ihren beiden Halbkugeln, staunte und wunderte sich über seine Hände, die sich unversehens zum Greifen wölbten. Er riß sich zusammen und wartete auf den Engel-Kollegen Hodniel, der ihm zur Seite stehen sollte. Er war schon da.
    Hodniel ist jener Engel, der die Macht besitzt, die Dummheit aus einem Menschen zu vertreiben, auch die Unreife, die Selbstbespiegelung, die liebesunfähig macht.
    Ich, Hodniel, sprach er, gestalte aus dir, Laura, ein Menschenkind, das mit der Gabe zu lieben gesegnet ist.
    Verliebe dich. Amen.
     
    Und so wurde Laura Granati über Tag und Nacht zu einer reifen, schönen Frau, die sich nur mit Unmut an ihre Zeit in Mailand erinnern konnte.
    Nur im Bett, zusammen mit David, wurden mailändische Erinnerungen wieder wach… zuweilen.
    Dann immer seltener.

VIER
    Da sich Lucia als Lauras Agentin fühlte, verließ sie pflichtbewußt Zimmer und Hotel, um wenigstens von außen das Gebäude anzusehen, in dem am kommenden Abend der erste Auftritt stattfinden sollte.
    Laura setzte sich wieder ans Fenster und spähte auf die Straße hinunter. Der Blinde ließ den weißen Stecken sanft und rasch in einem Halbbogen vor sich hin- und hergleiten, klemmte ihn dann unter den Arm und holte aus einer Ledertasche, die an seiner Schulter hing, ein großes Buch hervor.
    Die Bibel! dachte Laura.
    Der Blinde begann vorzulesen. Vorübergehende starrten entweder geradeaus, übersahen ihn bewußt oder hörten kurz zu, lachten und gingen weiter.
    Über einen Blinden lachen?
     
    Sie schlüpfte in Jeans und einen Pullover, knüpfte sich ein Frottiertuch um die ungekämmten Haare und eilte vom fünften Stockwerk die Treppe hinunter; atemlos blieb sie beim Hoteleingang stehen, überquerte dann die Straße und ertappte sich beim törichten Versuch, mitten im Lärm des Verkehrs auf leisen Sohlen zu gehen. Es war Mittag; die Autofahrer drückten auf die Hupen vor Begeisterung über die schöne junge Frau. Laura trat näher, blieb ein paar Schritte vor dem jungen Mann stehen und betrachtete ihn, hörte zu. Aber er senkte das Buch und schwieg. Er hatte ein trotziges, kindliches Gesicht und eine hohe, gewölbte Stirn. Er war schmal und lang, nicht sehr breitschultrig; am auffälligsten waren das dichte rötliche Haar und die Sommersprossen auf den Wangen. Etwas wie Unschuld leuchtete auf seiner Stirn: die Würde eines Blinden, der sich nicht vorstellen kann, daß ihm jemand zum Spaß einen Schneeball ins Gesicht schmeißt.
    Die Augenlider waren geschlossen wie die eines Schlafenden.
    »Treten Sie näher«, sagte er freundlich.
    »Näher kann ich gar

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