Geographie der Lust
Bündel Tageszeitungen mit den Blitzlichtaufnahmen auf dem Kennedy-Airport.
Omai O'Haras lebendes Kunstwerk gestern in New York angekommen…
Die Mutmaßungen auf den Textseiten überschlugen sich.
» Die Nichte des letzten Königs von Rom…«, »Die Urenkelin Umbertos II. …«, »Mussolini wollte ihre Mutter als Kind adoptieren…«, »Laura Granati – der Meister der Tätowierkunst erlag in einem Duell um ihre Gunst…«, »Wurde der Zar der neuesten Kunst vergiftet?…«, »O'Haras vierte Frau kämpft um ihr Geld…«
Dabei Photos irgendwelcher italienischer Kinder, dunkelhaarig, schön und immer mit andern Gesichtern: Laura als kleine Hirtin mit Schafen, Laura beim Tomatenpflücken (»The Queen of Pizza!«), Laura als Zwölfjährige mit spanischem Rock und Kastagnetten, Laura im Reisfeld (»Riso amaro«).
Laura verlor kurz das Bewußtsein, ihre Knie verloren die Spannkraft, ihr Körper rutschte ab, und ihr Gesicht sank für Sekunden unter die Oberfläche des Badewassers; Lucia packte sie mit festem Griff am Haar und zog sie empor, ließ sie wieder hinuntersinken, für Sekunden, zehn Sekunden, was immerhin der Zeitdauer entspricht, in der sich von einer Zwiebel in kochendem Wasser die äußere Haut ablöst. Dann erschrak sie über sich selbst und riß Laura energisch in die Höhe.
»Freu dich!« rief sie schrill. »Freu dich!« und hielt ihr eine Zeitschrift vor die Augen. Als Laura ihre Lider endlich öffnete, erblickte sie ihr Gesicht.
Nein, nicht ihr eigentliches Gesicht, vielmehr das Gesicht der Eingerahmten Dame, fremd und geheimnisvoll. Darunter stand: »Auf welchem Körperteil dieser Frau befindet sich das letzte Kunstwerk des größten Künstlers aller Zeiten?«
SECHS
Der erste öffentliche Auftritt Lauras war am nächsten Abend.
Die natürlich streng geschlossene Seniorensitzung des ehrwürdigen Geographie Magazine fand in aller Würde statt. Drei Dutzend Männer, die zum Teil sogar im vergangenen Jahrhundert geboren worden waren, gingen mit langsamen Schritten an Lauras Tätowierung vorbei, blieben eine halbe Minute stehen, andächtig wie vor einem Altar, als würden ihnen Lichtbilder ihrer ehemaligen Schulklasse vorgeführt, nickend auch, lächelnd, sich an frühere Reisen erinnernd.
Kein Geräusch außer den etwas schlurfenden Schritten der alten Herren war zu vernehmen. Kein Seufzer, kein Gekicher und keine auch noch so leise Bemerkung. Vornehm.
Laura, Gesicht und Oberkörper von Tüchern unsichtbar gemacht, dachte an die Kirche ihrer Kindheit. Sie kniete.
Etwas wie Demut – nicht Triumph, nein Demut – überkam sie: Wie schwer mußte es sein, alt zu werden und nur noch schauen zu dürfen. Ihnen jedoch war, als hätten sie Musik vernommen.
Es wurde still in dem kleinen Saal, und nach einer Weile klatschten die Gentlemen leise und vornehm wie nach einem Kammerkonzert. Zwei oder drei Herren hüstelten verlegen.
Laura dachte an den Blinden. Nie würde er sehen, was diese Männer sahen. Und sie freute sich.
Der Manager, ebenfalls ein älterer, doch rüstiger Mann, begleitete Lucia und Laura eine Viertelstunde später hinunter, verbeugte sich, öffnete die Tür zu einer wartenden Limousine und überreichte Lucia diskret einen Briefumschlag. »Es war ein wunderbarer Abend für uns alle«, sagte er, »Fleisch, Wissen und Erfahrung haben sich hier vermählt. Eine seltene Trinität.« Das war natürlich religiös gemeint, nicht weltlich.
»Cara Italia«, seufzte Lucia beglückt.
SIEBEN
Am zweiten Abend fanden sich Freunde und Feinde zweier Theorien in einem Privatraum des Hotels an der Upper Eastside ein, Befürworter und Gegner der Peters- und der Mercator- Theorie.
Die Mercator- Projektion unserer fast runden Erde (eigentlich ähnelt sie eher dem ovalen Ball des American Football), so verlaufen die Streitfronten, ist eurozentrisch: Schweden zum Beispiel ist auf der Mercator- Projektion größer als Ägypten; Südamerika und Afrika sind nicht breit und plump, wie man's in der Schule lernt, sondern schmal und grazil.
Die Anhänger der Peters -Theorie, ausschließlich junge Wissenschaftler, johlten, als Lauras Hintern nach einer Minute des Schweigens von zwei kleineren Scheinwerfern beleuchtet und die aus dem 16. Jahrhundert stammende Mercator- Theorie prall und farbig sichtbar wurde.
»Waren Sie je in Afrika«, schrie ein Befürworter dieser veralteten Theorie, ein älterer Herr, der sich ans Herz griff, denn er hatte seine beste Manneszeit in Kenia verbracht.
Ein Vertreter der
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