Geographie der Lust
nicht kommen«, sagte Laura.
»Unsere Nasenspitzen berühren sich schon fast.«
»Sie sind Italienerin«, sagte der junge Mann.
Sie nickte, als könnte er sie sehen.
»Ich hätte es auch sonst erraten, nicht nur der Akzent. Sie riechen nach Kastanienblüten.«
Laura schwieg. »Was lesen Sie denn vor?« fragte sie nach einer Weile. »Warum lachen die Leute?«
»Ich lese Namen, Adressen und Telephonnummern vor«, sagte er. »Natürlich kann ich nicht lesen, aber gerade das gefällt den Leuten. Sie denken alle, daß ich einen Blinden spiele.«
»Betteln Sie?« fragte Laura. »Ich würde Ihnen gerne etwas schenken, aber da ist kein Hut oder so.«
»Ich bettle doch gar nicht«, antwortete er, »manchmal steckt mir jemand einen Geldschein in die Tasche und nicht einmal den kleinsten.«
»Warum machen Sie das?«
»Weil ich der Welt irgendwelche Namen mitteilen möchte. Das macht auch jenen Spaß, die den Namen wirklich trugen und vielleicht längst gestorben sind.«
»Wie heißen denn Sie?« fragte Laura.
Der junge Mann lächelte, schwieg. Er betastete mit den Händen ihr Gesicht, fast ohne ihre Haut zu berühren: ihr Profil, ihre geschlossenen Augen, ihr starkes kleines Kinn, die Konturen der Lippen, die Laura trotzig zu einem schmalen Schlitz zusammenklemmte, fuhr tastend über ihre Stirn, den Haaransatz, und als seine Hände ihr Haar wirklich ergriffen, als versuchte er ihr Gewicht, das unmeßbare, zu messen, glaubte sie seine Hände am ganzen Körper zu spüren. Sie zitterte.
Er tupfte mit seinem Zeigefinger auf ihre Nasenspitze. »Jedes einzelne Haar besitzt eine Seele«, sagte er.
Zwei Polizisten näherten sich. Der eine wandte sich an den blinden jungen Mann, hustete barsch: »Schämen Sie sich nicht, Sie als Blinder, eine junge Frau zu belästigen?«
Und der andere wandte sich Laura zu: »Lassen Sie diesen Mann gefälligst in Ruh'. Sehen Sie nicht, daß er blind ist? Oder macht gerade das Spaß? Hm?«
Die Leute blieben stehen, hörten zu und lachten so lange, bis die beiden belämmerten Polizisten die Leute energisch zum Weitergehen aufforderten.
Laura umgriff mit beiden Händen unversehens seine Schultern, umarmte den hochgewachsenen Mann auf Zehenspitzen, als wollte sie einen Baum erklimmen, und küßte ihn leidenschaftlich.
»Sehen wir uns wieder?«
»Ich kann dich nicht wiedersehen«, sagte der junge Mann, und: »Willst du mich wiedersehen?«
»Ja«, sagte sie atemlos, »ja.«
»Und ich werde dich wieder fühlen.«
»Ich heiße Laura. Wie heißt du?«
»Heute heiße ich Paul. Morgen? Keine Ahnung.«
Sie küßte ihn flüchtig und rannte im Zickzack zwischen den Autos zum Hoteleingang, blieb stehen und rannte wieder zurück.
»Paul«, sagte sie zu dem blinden jungen Mann, »Paul, ich bin in zwei oder drei Wochen wieder da. Hier! An dieser Stelle. Wayawanda-Hotel, und wenn du nicht kommst, sitze ich tagelang am Fenster und warte auf dich.«
»Gut«, antwortete der Blinde, »aber dann heiße ich vielleicht nicht mehr Paul.«
Laura erschrak.
Nichts ist so schnell erschreckbar wie Liebe, die eben ihren Anfang genommen hat.
»Ich werde immer auf dich warten«, sagte Laura, »immer.« Sie rannte aufschluchzend zum Hotel und in ihr Zimmer zurück und spähte sogleich auf die Straße.
Er war verschwunden.
Opiel ist der einzige Engel, der Flügel mit bunten Farben trägt und nach Laune deren Federn wechseln darf.
Da Opiel Gedichte schreibt, hält man ihn im Universum nicht für besonders intelligent. Aber wie alle Poeten ist er im Grunde gerissen und schlau, Eigenschaften, die er im Lauf kosmischer Zeiten entwickelt hat.
Opiel hat bei seiner Schreiblust nur ein Gebot einzuhalten: Jedes Gedicht hat sich in irgendeiner Weise mit der Ordnung der Engel zu befassen.
Das gelingt ihm immer wieder mühelos, auch diesmal, obwohl er es für die Liebe der beiden Erdlinge verfaßt hat.
Und nicht einmal Dank hat er zu erwarten.
Blind bin ich, klagt der Engel,
Wem habe ich meine Augen verschenkt?
Wie viele Augen hattest du, fragt ihn
die Stimme. Und jener erkennt sie
Zwölf Hutschachteln mit Augen,
spricht zaghaft der Engel, sind gestern
über Meere gefahren. Die Schiffe versunken.
Die Augen ertrunken. Die Kisten leer.
Und ich hab geschlafen. Ist das so arg?
Nein, antwortet die Stimme:
Die Augen können auch ohne dich sehn.
FÜNF
Als Laura am folgenden Morgen erwachte, war sie berühmt. Sie saß in der Badewanne, als die Tür sich langsam öffnete und Lucia hereinkam. Sie brachte ein
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