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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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Hotelzimmertür hinter sich zu, rannte die Treppe hinunter, den unzuverlässigen Fahrstuhl hinter sich lassend.
    Ja, er war es.
    Seine Haare waren durchnäßt, auch der Regenmantel. Die langen, nassen Schnürsenkel klatschten lose um seine Schuhe, und winzige Fontänen spritzten nach rechts und links. Entgegenkommende versuchten ihm auszuweichen, aufgeschreckt vom weißen tastenden Stock.
    »Paul!« rief Laura. »Paul!«
    Der blinde junge Mann stapfte unbeirrt weiter.
    Sie blieb stehen, horchte in sich hinein und rief, einer Eingebung folgend: »David!«
    »David!« jauchzte sie. »David!«, rannte auf ihn zu und umarmte ihn.
    Der Mann, der noch vor wenigen Wochen Paul geheißen hatte und nun auf den Namen David hörte, küßte sie. Seine Lippen fanden ihre sich öffnenden Lippen. Dann kniete sie vor ihm nieder, preßte mit den Fingern das Wasser aus seinen losen Schnürsenkeln, zog sie fest durch die Schuhösen der triefenden Sneakers und knüpfte die Enden zusammen.
     
    Der Zufall wollte es, daß drei der fünf Engel des Regens daherkamen, Matriel, Zalbesael und Ridia, und sich ihres Tagwerks erfreuten.
    Oho, bemerkte Matriel, hier hat unser Regen zwei Menschenkinder entzweit.
    Im Gegenteil, versetzte Ridia, die junge Frau kniet vor dem Mann und bindet seine Schnürsenkel.
    Sie weint aber, die junge Frau, bemerkte der Engel Zalbesael.
    Unsinn, das ist der Regen. Das sind Regentropfen.
    Nun arbeitest du seit der Schöpfung des Universums als Regenexperte in der Ordnung der Engel und kannst noch immer nicht Regentropfen von Tränen unterscheiden. Schäm dich!
    Streitet euch nicht! Ausgerechnet in dieser Stadt, deren Bewohner trotz allem Elend so wenig Tränen und soviel Mut zeigen!, sagte der Regenengel Matriel.
    Ja, fügte der Engel Ridia hinzu, wir wollen die beiden mit den Flügeln streifen und segnen. Das taten sie und verfügten sich zur nächsten Subway-Station:
    Matriel, Zalbesael und Ridia: drei der fünf Engel des Regens.

ELF
    »Warum sind deine Augenlider immer geschlossen?« fragte Laura und streichelte seinen Oberkörper, der gewölbter und fester war, als seine Hagerkeit vermuten ließ.
    »Weil es nicht schön ist, zerstörte Augen zu sehen«, antwortete David.
    »Man hat sie zugenäht?«
    »Etwas Ähnliches.«
    »Wie bist du blind geworden?«
    »Ein besoffener alter Doktor, in Greenville, Alabama, wollte meine verklebten Babyaugen mit einer Flüssigkeit reinigen. Er bekam das falsche Fläschchen in die zittrigen Finger, irgendeine ätzende Flüssigkeit oder so, und stellte sogleich fest, daß er sich geirrt hatte. Vermutlich, weil ich lauter schrie, als er erwartet hatte.«
    »Und dann?«
    »Nichts weiter. Er schenkte meiner Mutter fünfhundert Dollar und gab am nächsten Tag seine Praxis auf.«
    »Warum haben deine Eltern ihn nicht verklagt?«
    »Waren zu arm. Zudem hätte mein Vater so etwas wie Mitleid gehabt. In nüchternem Zustand. Er war fast immer besoffen. Auch er.«
    Laura küßte seine Augenlider, ja die Haut seines ganzen Körpers, von der Stirn bis zu den Zehen und wieder hinauf. Dann küßte er ihr Genick, streichelte mit der rechten Hand ihre Oberschenkel und umfaßte mit beiden Händen ihre straffen Halbkugeln, die eine Hälfte kräftiger, und hielt inne.
    »Der schönste Hintern der Welt«, sagte er genüßlich.
    »Du siehst ihn ja gar nicht«, sagte sie nach einer Weile verlegen.
    »Du bist erschrocken?« fragte er. »Warum?«
    »Aber nein«, lachte sie.
    »Doch«, beharrte er, »du bist erschrocken.«
    »Weil du mich schön findest, ja, deshalb«, und damit zog sie ihn auf ihren begehrenden Körper und hinderte ihn daran weiterzureden.
     
    Die Mädchen in ihrem Dorf waren alle um ihre Unschuld für die Hochzeitsnacht besorgt gewesen… Cara Italia!
    Laura sorgte sich um ihren tätowierten Hintern.
    Dies war ihre Keuschheit.
    Der Blinde durfte nie etwas von der Tätowierung erfahren. Nie. Bis in alle Ewigkeit.
     
    Ein Planet, so schätzt man, hört nach zehn Milliarden Jahren auf zu existieren.
    Unsere Welt wird erloschen sein wie der Mond. Vielleicht werden noch einige unterirdisch gelagerte Atombomben in sinnvoller Verspätung explodieren und niemandem ein Leid antun.
    Das ist das Schöne an der Ewigkeit.

ZWÖLF
    Das Geräusch, das sie am nächsten Morgen im Hotelzimmer weckte, war das leichte Klacken des tastenden Blindenstocks, mit dem David eine leere Blumenvase berührte.
    »Wo gehst du hin?« fragte sie ängstlich.
    Er tastete sich zur Bettkante, setzte sich und legte die

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