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Geopfert - [Gus Dury ; 1]

Geopfert - [Gus Dury ; 1]

Titel: Geopfert - [Gus Dury ; 1] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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überall auf dem Flur Köpfe aus Türen auf.
    »Sorry, Leute – ein kleiner Familienkrach«, sagte ich. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«
    Ich wappnete mich für eine letzte kräftige Attacke, als sich die Tür plötzlich einen Spaltbreit öffnete. Ein Mädchen, nicht älter als vierzehn, linste zu mir heraus. Sah so erschrocken und verängstigt aus wie ein kleines Tier in einer Schlinge.
    Ich dachte: ›Der Feigling‹. Hat seine Tochter vorgeschickt, damit ich mich beruhige, während er sich drinnen vor mir versteckt.
    »Damit kriegst du mich nicht«, sagte ich. Stemmte mich gegen die Tür und stieß sie auf. Fast wäre das Mädchen auf ihren Hintern geflogen, als ich hineinstürmte.
    Drinnen kriegte ich den Schock meines Lebens. Noch mehr junge Mädchen füllten den Raum, genauso verängstigt wie das erste. Sie hatten kaum mehr als Lumpen am Leib, alte Jacken, die wie gebrauchte Militärklamotten aussahen. Jede einzelne von ihnen zitterte und blickte mich mit großen Augen an. In verzweifelter Angst hielten sie einander an den Händen. Jedes Gesicht bleich und ausgezehrt, ihre Augen ohne Ausnahme weit aufgerissen. Sie starrten mich an, als suchten sie nach etwas.
    Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich tun sollte. Es sah aus wie eine Szene aus Schindlers Liste .
    »Was ist hier los?«, fragte ich.
    Keine Antwort. Nicht eine von ihnen brachte den Mund auf.
    Ich wandte mich wieder an das Mädchen, das die Tür geöffnet hatte: »Was soll das hier? Was geht hier vor?«
    Sie sagte nichts.
    Ich wurde wütend, es war Frustration, der Alkohol. Ich packte ihren Arm und fuhr sie an: »Was zum Teufel geht hier drinnen vor? Ein Haufen Mädels, die aussehen wie KZ-Opfer aus Bergen Belsen, halb verhungert und zusammengepfercht wie Sardinen – sprich mit mir, hörst du? Mein Gott, ich bin doch nicht dein Feind!«
    Sie weinte, klopfte auf ihre Brust. Im Maschinengewehrfeuer ihrer Sprache stieß sie ein Wort hervor, das ich verstand: »Lettland.«
    Ich ließ ihren Arm los, dachte: ›Heilige Scheiße‹.
    Ging wieder hinaus.
    Unten knallte ich gewaltige Mengen Whisky weg. Direkt aus der Flasche. Ich versuchte einzuordnen, was ich da gerade gesehen hatte. Aber in meinem Kopf wimmelte es von Bildern junger Mädchen, die weinten und mich anstarrten, als wäre ich ihr Henker. Ich wusste, dass mehr als eine Flasche nötig war, um diese Erinnerung auszulöschen.
    Ich suchte meine Zigaretten und entdeckte sie auf dem Fensterbrett auf einem Heftchen Streichhölzer. Ich riss eines an, nahm einen tiefen Zug und zog das Nikotin tief in meine Lungen. Sofort spürte ich seine beruhigende Wärme.
    Ja klar, die Dinger bringen einen um, aber was nicht? Meine Nerven begannen sich allmählich vom Schrillen sonntäglicher Kirchenglocken zu einem sanften Murmeln zu beruhigen, das flüsterte: »Reiß dich einfach zusammen, Gus.«
    Ich setzte mich aufs Fensterbrett und schaute hinaus. Ein Sternenhimmel. Ich spürte, wie sich der Glaube meiner Kindheit nach mir ausstreckte. Alte Gebete, gesprochen am Bett, kamen mir in den Sinn. Wenn die Religion ihr Haupt reckt, weiß ich, dass ich in echten Schwierigkeiten stecke.
    Ich senkte den Blick, kehrte zur Erde zurück.
    Da bemerkte ich eine winzige Bewegung unter der Straßenlaterne vor dem Haus. Ein Mann stand dort. Ich überschlug die Szene, zählte eins und eins zusammen, brachte alles in die richtige Reihenfolge. Ja, genau, dort unten auf der Straße stand ein Mann, der mich beobachtete.
    Ich schaute noch mal genau hin. Er rauchte eine Zigarette und sah direkt zu mir herauf, sah mich vor sich stehen, seine Bewegungen spiegelnd. Einen Moment lang stellten wir Blickkontakt her, und sofort wusste ich, wo ich ihn schon mal gesehen hatte. Es war der würfelförmige Bursche, der mit der Zeitung, der mich mit Amy beobachtet hatte.
    Ich drückte die Kippe aus.
    Rannte zur Tür.

A ls ich das Ende der Zufahrt erreichte, startete der Würfel durch. Er rannte wie ein Jawa vom Wüstenplaneten Tatooine, nur stämmige Beine und Arme, die pumpten, als ginge ’s um sein Leben. Ich war ihm dicht auf den Fersen, »chancenlos«, wie es früher in Die Füchse hieß. Er wusste, dass ich alles gab. Ich klebte an ihm wie eine Pechsträhne. Immer wieder drehte er sich kurz zu mir um. Sein Gesicht war rot wie das von Hellboy, die Wangen aufgebläht wie Blasebälge. Ich sah jetzt seine Gesichtszüge klar und deutlich, und ich würde sie nicht mehr vergessen.
    »So, du kleines Arschloch! Hab ich dich!«, brüllte ich

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