Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
mit dem Mord, als er immer wieder zusticht (Szene 20), löst sich diese Verkrampfung. Dass der Mord mit dem Messer, als Vergeltungsakt für den Beischlaf Maries mit einem anderen Mann, auch eine zerstörerische und verzweifelte Vergewaltigung darstellt, muss nach dem Vorangegangenen kaum gesagt werden. Die Szenen, die zwischen dem Augenschein des Betrugs und dem Mord liegen, zeigen Woyzeck im Bann seiner Zwangsvorstellung, Marie töten zu müssen (Szenen 13 und 14), bei einer weiteren Demütigung, diesmal öffentlich im Ringkampf mit seinem Nebenbuhler (15), beim Kauf der Mordwaffe (16) und in seiner namenlosen Armut (als er Andres seine wenigen Sachen vermacht, Szene 18). In Szene 19 holt er Marie ab. In all diesen Szenen wirkt er wie abgeschottet gegen seine Umwelt, nicht mehr wirklich ansprechbar. Er befindet sich in dem Tunnel, an dessen Ausgang er den Mord begehen wird. Auch diese Isoliertheit ist Symptom seiner Psychose.
Mit dem Mord an Marie nimmt Woyzeck, der Fremdbestimmte, sein Geschick in die eigene Hand. Auch Maries Untreue trägt zu seiner Fremdbestimmung bei: Nun ist er auch noch der Betrogene, der Hahnrei. Das nimmt er nicht hin. Insofern ist der Mord an Marie auch ein Protest, ein Befreiungsschlag gegen die ihm von vielen Seiten auferlegten Zumutungen. Kennzeichnend ist, dass diese selbstbestimmte Handlung auch eine selbstzerstörerische ist, denn mit Marie verliert er das Geliebteste auf der Welt. Dieser Zwiespalt kennzeichnet auch die nachfolgende Wirtshaus-Szene (22). Unter dem Eindruck seiner Mordtat verhält sich Woyzeck fieberhaft dominant, singt ein Lied, kommandiert Käthe herum, macht es sich bequem, droht ihr – für sie natürlich nicht erkennbar – mit dem Schicksal Maries (»du wirst auch noch kalt werden«) und fordert sie ganz herrenmäßig auf, ihm ein Lied vorzusingen. Diese Pose fällt aber sogleich in sich zusammen, als Käthe entdeckt, dass er blutbefleckt ist. Als entlarvter Mörder flieht er die menschliche Gemeinschaft, in der er sich eben angeschickt hatte, einmal eine andere Rolle als die des geschlagenen Hundes einzunehmen. Die Szenen 24 und 25 zeigen ihn allein, am Tatort mit der Leiche und am Teich, die Mordwaffe beseitigend. Dass er die Strafverfolgungsinstanzen nicht wird täuschen können, braucht nicht mehr gezeigt zu werden. Die vorletzte Szene deutet an, dass Woyzecks Ausbruch aus den ihm auferlegten Zwängen rasch beendet sein wird. Die Exekutive (der Polizeidiener), die Judikative (der Richter) und vielleicht auch die öffentliche Meinung (der Barbier, in seiner Funktion als Streuer von Nachrichten und Stimmungen) finden sich zusammen, um die Tat zu klassifizieren. Die Vertreter der Gesellschaft haben die Sache, und wohl bald auch den Täter, mühelos wieder im Griff. Dieser ist am Ende von allen verlassen, wie die Schlussszene zeigt: Auch sein eigenes Kind wendet sich angstvoll von ihm ab.
Marie Zickwolf. Maries Schicksal ist eng mit dem Woyzecks verknüpft. Ihre Untreue lässt den seelisch kranken Woyzeck endgültig die Kontrolle über sich verlieren. Als Folge ihrer Untreue wird sie das Opfer von Woyzecks Mordtat.
Gleich ihr erster Auftritt in der zweiten Szene liefert entscheidende Hinweise auf ihre Lage. Sie muss den Hohn der Nachbarin wegen ihres unehelichen Zusammenlebens mit Woyzeck und ihres gemeinsamen Kindes über sich ergehen lassen. Woyzeck selbst ist in seiner Psychose gefangen. Sie erreicht ihn nicht. Er macht ihr Angst. Unter diesen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass der eitle und selbstgewisse Tambourmajor Eindruck auf sie macht. Zum Abschluss der Jahrmarkt-Szene (Szene 3) signalisiert sie ihm ihr Interesse. Dass sie für Äußerlichkeiten, eine imponierende Gestalt, reiche Kleidung, Schmuck, empfänglich ist, zeigen die Szenen 2 bis 4. In der vierten Szene weckt das Werbegeschenk des Tambourmajors, die Ohrringe, Sehnsüchte nach einer glänzenderen Existenz und das Gefühl, dass ihr eine solche aufgrund ihrer Attraktivität auch zusteht. Als Woyzeck hinzukommt und seinen kargen Lohn abliefert, dessen Höhe in krassem Kontrast zu solchen Träumen steht, ist Marie dennoch beschämt. Sie hält sich für schlecht. Dieses Urteil wird ihr allerdings zum Anlass, nun auch keine Rücksichten mehr zu nehmen.
Szene 6 bringt in größter Gedrängtheit den Charakter des Verhältnisses zwischen Marie und dem Tambourmajor zum Ausdruck. Sie bewundert seine Erscheinung, durchschaut jedoch gleichzeitig seine Eitelkeit. Des Tambourmajors
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