Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
derb-sinnliche Huldigungen und seine Selbstgefälligkeit verstimmen und erregen sie zugleich. Diese zwiespältigen Gefühle (Ambivalenz) führen wiederum dazu, dass ihrer Hingabe etwas Fatalistisch-Resignierendes eignet: Er ist erkennbar nicht der Richtige, aber doch in der Lage, sie auf Augenblicke aus ihrer Misere herauszureißen.
Szene 7 bildet den Kontrapunkt zu Szene 6: Nach dem Stelldichein mit dem auch in seiner Ausdrucksweise vor Selbstbewusstsein strotzenden Tambourmajor wird Marie von einem nach Worten ringenden Woyzeck zur Rede gestellt. Ist sie anfangs bereit, auf ihn einzugehen – »(verschüchtert). Was hast du Franz?« –, so fährt sie ihm bald über den Mund. Auch hier spielt Ambivalenz hinein: Sie hat Mitleid mit Woyzeck, aber ihr durch den Tambourmajor geweckter Stolz verbietet ihr, sich dem verstörten Mann unterzuordnen. Angesicht in Angesicht mit Woyzeck zeigt sie, dass sie ihn nicht mehr achtet. Damit ist der Graben unüberbrückbar.
Folgerichtig zeigt die nächste Szene, in der Marie auftritt, diese in den Armen des Tambourmajors, vor den Augen der Öffentlichkeit im Wirtshaus tanzend und die kurzen Momente der Selbstvergessenheit, die dieser Liebhaber ihr bieten kann, in fast zwanghaft forcierter Weise auskostend (Szene 12). Dass sie in Szene 17 von Reue durchdrungen ist, sich mit auf ihr Fehlverhalten passenden Bibelstellen und mit dem Anblick ihres Kindes quält, sich schließlich Gedanken darüber macht, dass Woyzeck ausgeblieben ist, könnte darauf deuten, dass sie das Gewesene ungeschehen machen und wieder zu Woyzeck zurückkehren möchte. Was sie nicht wissen kann, hat der Zuschauer in der Szene zuvor jedoch miterlebt: Woyzeck hat bereits die Tatwaffe gekauft. In der nachfolgenden Szene macht Woyzeck gewissermaßen sein Testament: Dramaturgisch wirkungsvoll ist so Maries Reue von zwei Szenen umklammert, die Woyzecks Entschlossenheit zum Mord schildern. Dass Maries Bedauern weniger neue Hoffnungen als tiefe Trostlosigkeit freisetzt, zeigt sich am Ende der Szene: Ihre Klage »Alles tot!« bringt zum Ausdruck, dass auch sie sich, ungeachtet ihres Kindes, von allen verlassen fühlt. Diese Klage durchzieht auch das von der Großmutter in Szene 19 erzählte Märchen. Das »arm Kind«, von dem dort die Rede ist, lässt sich so auch auf Marie beziehen. Kurz darauf kommt Woyzeck, um sie zu ihrem letzten gemeinsamen Gang abzuholen.
Die Figur der Marie zeigt, wie die Verhältnisse es den armen Leuten unmöglich machen, Solidarität zu üben und aneinander Halt zu finden. Woyzeck ist durch seine Drangsalierung durch diejenigen, die die gesellschaftliche Macht ausüben, so deformiert, dass er sich Marie nicht mehr zuwenden kann. Infolgedessen wendet sie sich ab und leitet damit seine für beide zerstörerische Gegenreaktion in die Wege.
Andres. Die Charaktere von Dramenfiguren entfalten sich für den Zuschauer im Wesentlichen über
Äußerungen
: über Eigenkommentare der Figur ebenso wie über Fremdkommentare. Natürlich spielt auch das
Handeln
der Figuren eine wichtige Rolle für die Beurteilung ihres Charakters. Jedoch ist auch das Handeln in Theaterstücken über weite Strecken wiederum sprachliches Handeln. Über diese zentralen Aspekte hinaus sind die Möglichkeiten des Dramatikers, seine Figuren zu charakterisieren, begrenzt. Er kann sich nicht erläuternd einschalten, sondern muss alles durch die Figuren und durch den Ablauf der Geschehnisse deutlich werden lassen. Aber er kann ein bezeichnendes Licht auf eine Figur werfen, indem er eine andere Figur als
Kontrast
zu der ersten einführt. In dieser Weise beleuchtet Büchner mit Hilfe von Woyzecks harmlosem Kameraden Andres die Verstörtheit der Hauptfigur. Bezeichnenderweise durchleidet Woyzeck in den ersten drei der vier Szenen (1, 11, 14 und 18), in denen Andres mit ihm auf der Bühne ist, besonders schwere psychotische Krisen. Andres wird in den Szenen 1 und 11 als ein Singender eingeführt. Der Gesang ist Zeichen seiner Gutartigkeit. (Der Volksmund weiß: Schlechte Menschen kennen keine Lieder.) Doch in beiden Szenen verstummt der Gesang, weil Woyzecks Ängste und innere Unruhe auch Andres anstecken. In seiner dritten Szene (14) kann Andres nicht singen, denn es ist Nacht und er schläft. Dass er mit Woyzeck das Bett teilt, veranschaulicht sowohl ihre Vertrautheit wie auch beider Armut. Woyzecks Mitteilungen über die Stimmen, die ihn bedrängen, deutet Andres als Fieberträume, als Vorboten einer Krankheit. Ob das eine
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