Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
Schutzbehauptung ist, weil Andres sich mit dem ihm unheimlichen Zustand, in dem Woyzeck ist, nicht auseinander setzen möchte, bleibt offen. Wenn dies eine Abwehrhaltung ist, so setzt sie sich in Szene 18 fort, als Woyzeck erkennbar mit dem Leben abschließt und Andres ihm wiederum zuredet, dass er nur eine Krankheit durchmacht. Dass Woyzeck Andres seinen armseligen Besitz schenken möchte, zeigt, dass Andres der Mensch ist, der ihm nach Marie (die Woyzeck verloren hat) am nächsten steht. Dass dieser ihm nächste Mensch nicht in der Lage ist, ihm zu helfen, akzentuiert scharf Woyzecks Verlassenheit.
Warum Andres die geistige Selbstständigkeit und der Antrieb zu eigenem Handeln fehlen, die ihn vielleicht befähigen würden, seinen Kameraden Woyzeck aus dessen Isolation und Psychose zu befreien, wird auch angedeutet. Alfons Glück hat zutreffend darauf hingewiesen, wie sehr Woyzeck, und mehr noch Andres, der »wie abgeschaltet« wirke, durch den militärischen Drill »auch seelisch deformiert sind, degradiert zu Automaten, Robotern« (vgl. 11. Lektüretipps , Glück). Dies sei ein Hauptgrund ihrer Passivität und zeige sich besonders an dem stereotypen »Ja wohl«, diesem »Hauptwort der Subordination« (Unterordnung), das sich noch in das Gespräch der Kameraden untereinander einschleiche (vgl. Szene 18). Damit werde exemplarisch deutlich, wie »die psychische Mechanisierung« der Unterdrückten in deren persönliche Beziehung zueinander eindringe und ihre Kommunikation deformiere. Dass Andres unfähig ist, Woyzeck beizustehen, ist demzufolge das direkte Resultat seiner Zurichtung durch die Gesellschaft. Da Woyzeck und Andres gleichermaßen zugerichtet sind, fungiert Andres in dieser Hinsicht nicht als Kontrast-, sondern als Korrespondenz(Entsprechungs)figur zu Woyzeck.
Der Tambourmajor. Der Tambourmajor ist eine weitere Kontrastfigur zu Woyzeck. Während es Woyzeck an Selbstbewusstsein fehlt, verfügt der Tambourmajor über ein Übermaß an Selbstgefühl. »Er steht auf seinen Füßen wie ein Löw«, ist Maries erster Eindruck (Szene 2). Woyzeck hingegen gerät der Boden unter seinen Füßen fortwährend ins Wanken. Der Tambourmajor, der Angeber und Sexualprotz, der nur aus Äußerlichkeit besteht und den nur Äußerlichkeiten anziehen, triumphiert über Woyzeck, den manisch auf sein verstörtes Innenleben Fixierten: zuerst, indem er ihm Marie wegnimmt (Szenen 3 und 6), und schließlich auch im direkten Ringkampf (Szene 15).
Anzeichen der Äußerlichkeit des Tambourmajors ist seine militärische Funktion: Er marschiert dem Spielmannszug voran und tritt somit, immer weithin sichtbar, vor allem bei Paraden und anderen repräsentativen Anlässen in Erscheinung. Ein weiteres Anzeichen seiner Äußerlichkeit ist der Umstand, dass er im Stück namenlos bleibt. Insofern ist er als ein flacher Charakter einzuordnen, wenn überhaupt man noch von einem Charakter sprechen möchte. Auch bei ihm hat der militärische Dienst, wie bei Woyzeck und Andres, viel von seiner Persönlichkeit unterdrückt. Jedoch geht er in dieser Zurichtung auf: Sie macht ihn stark, während sie die anderen beiden schwächt. Das Militärische scheint ihn erst richtig zur Geltung zu bringen, während es Woyzeck und Andres unkenntlich zu machen droht. Aus demselben Grund aber erscheint nicht nur Woyzeck, sondern auch der nur in wenigen Szenen und zudem verhalten agierende Andres charakterlich individualisiert: Der Zuschauer spürt, dass in Andres Möglichkeiten schlummern, die das Militärische verschüttet hat. Der Tambourmajor weist solche verborgenen Seiten, die ihn zu einem runden Charakter machen würden, nicht auf.
Der Hauptmann. Für sich genommen ist der Hauptmann eine kümmerliche Gestalt. Er ist müßig – er liegt im Fenster und schaut den Frauen nach (vgl. Szene 5) –, »aufgedunsen, fett« und insofern vom Schlaganfall bedroht (der Doktor über den Hauptmann, Szene 9), schreckhaft um seine Gesundheit besorgt und auch vor dem Feind alles andere als tapfer gewesen (vgl. seinen Eigenkommentar am Ende der Szene 9). Dass er nicht über den Rang eines Hauptmanns hinausgekommen ist, wird mit diesen mittelmäßigen Anlagen zusammenhängen. Der Bedrohung, die eine fortschreitende Modernisierung der Gesellschaft auch für ihn bedeutet, begegnet er mit einer philosophischen Attitüde, die aber inhaltlich völlig unzulänglich bleibt und über einen wichtigtuerischen Idealismus nicht hinausreicht. Dabei stützt er sich auf konservative Werte wie
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