Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
unmittelbaren Vorgeschichte des Verbrechens: wie sich in Louis die Mordphantasien ausbreiten und wie er die Tat vorbereitet. Diese Handlungssequenz liegt als geschlossene Szenenfolge vor.
H2 ist wohl nach H1 entstanden und enthält neun, mehrheitlich neue, Szenen. Diese zeigen Woyzeck und Louise, wie sie nun heißen, in ihrem sozialen Umfeld. Neu sind die Figuren des Hauptmanns und des Doktors, mit denen Woyzecks Dienstverhältnisse anschaulich gemacht werden.
H3 besteht aus nur zwei Szenen: »Der Hof des Professors« und »Der Idiot. Das Kind. Woyzeck« (vgl. die Szenen 10 und 27 der diesem
Lektüreschlüssel
zugrunde liegenden Edition des Stücks).
H4 enthält 17 Szenen. Sie folgt der Szenenfolge aus H2, die um drei neue Szenen erweitert ist, und endet mit der Szene, in der Woyzeck Andres seine wenigen Habseligkeiten vermacht (vgl. Inhaltsangabe ).
Warum der Entwurf an dieser Stelle abbricht, ist natürlich nicht mit Sicherheit zu beantworten. Immerhin ist damit zu rechnen, dass der zweite Teil von H4 – bzw. weitere Entwürfe oder eine endgültige Reinschrift des Dramas – verloren gegangen ist. Viel spricht andererseits dafür, dass Georg Büchner das Manuskript nicht fortsetzte, weil ihm mit den Schlussszenen von H1 bereits das Dramenende in einer zusammenhängenden und ausgearbeiteten Fassung vorlag. Die neueren Ausgaben gehen von dieser Annahme aus.
3. Offene oder geschlossene Form?
Strittig ist dagegen die Frage, wie mit den beiden Szenen aus H3 umzugehen sei. Besonders im Falle der Professor-Szene ist es schwierig, ihren beabsichtigten Platz im Stück auszumachen. Fügt man sie vor der Wirtshaus-Szene (Szene 12) ein und hält man es für plausibel, dass Woyzeck neben seinem Dienst als Soldat an einem Tag gleich drei Nebentätigkeiten nachgehen kann – beim Hauptmann (Szene 5), beim Doktor (Szene 8) sowie beim Professor (Szene 10) –, so ergibt sich eine geschlossene und eng verzahnte Szenenfolge, die in überraschendem Kontrast zu der seit Beginn der
Woyzeck
-Rezeption vorherrschenden Vorstellung steht, das Stück sei geradezu der Paradefall einer lose geknüpften Szenenfolge, oder, um es auf den gängigen literaturwissenschaftlichen Begriff zu bringen: ein Modell der offenen Form des Dramas. Eine solche offene Form boten zweifellos die ersten
Woyzeck
-Fassungen. So war man lange gewohnt, das Stück mit der fünften Szene beginnen zu sehen, in der Woyzeck den Hauptmann rasiert. Auch Alban Bergs Oper
Wozzeck
aus dem Jahre 1925 fängt entsprechend mit dieser Episode an. Ein ganz anderes Bild bietet die hier zugrunde gelegte Ausgabe. Die dramatische Handlungsfolge von Untreue, Eifersucht und Verbrechen scheint hier aufs Äußerste zusammengedrängt:
Die ersten drei Szenen (Andres und Woyzeck schneiden Stöcke, Marie beobachtet den Zapfenstreich, Jahrmarkt) spielen sich demzufolge an einem Abend ab. Die Szenen 4 bis 8 (Woyzeck besucht Marie, rasiert den Hauptmann; Marie trifft den Tambourmajor, Woyzeck stellt sie zur Rede; Woyzeck beim Doktor) fallen auf den nächsten Vormittag; die Szenen 9 (die zweite Hälfte dieser Szene weist in H4 eine Lücke auf, die durch Text aus der entsprechenden Szene in H2 zu ergänzen ist, um eine schlüssige Handlungsfolge zu gewährleisten, vgl. Reclam-Ausgabe 22,6 – 23,35 ) bis 13 (der Hauptmann und der Doktor bestärken Woyzeck in seinem Verdacht, Woyzeck assistiert dem Professor und wird den Studenten vorgeführt, verlässt später die Wachtstube, beobachtet den Tambourmajor und Marie beim Tanz, hört Stimmen, die ihm den Mord einflüstern) auf den Nachmittag und Abend und die Szene 14 (Woyzeck weckt Andres) auf die Nacht desselben Tages. Die Szenen 15 bis 18 (der Tambourmajor demütigt Woyzeck vor Zuschauern, Woyzeck kauft die Mordwaffe, Marie liest in der Bibel, Woyzeck übermacht Andres seinen Besitz) spielen während des darauf folgenden Tages. Gegen Abend holt Woyzeck Marie ab (Szene 19) und ersticht sie (Szene 20). Es kommen Leute (Szene 21). Woyzeck zeigt sich blutbefleckt im Wirtshaus (Szene 22). Indessen laufen die Kinder zum Tatort hinaus (Szene 23), wo Woyzeck nach dem Messer sucht (Szene 24), das er in den Teich wirft (Szene 25). Der Mord wird kommentiert (Szene 26). Woyzeck versucht vergeblich, noch einmal Kontakt zu seinem Kind aufzunehmen (Szene 27). Nach dieser Berechnung spielt sich die Handlung des Stücks innerhalb eines Zeitrahmens von gut 50 Stunden ab.
Betrachtet man das als plausibel, so ergeben sich für das Stück Bauprinzipien, die
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